Augen der Nacht (Dunkelmond Saga) (German Edition)
in Empfang nahmen.
Es gab nichts mehr, was er noch tun konnte. Gar nichts,
außer sich rechtzeitig aus dem Staub zu machen. Vor ihm
lag eine kleine, belebte Gasse. Also zog er sich den Hut ins
Gesicht und schlüpfte hinein. Der Menschenstrom trug ihn
weiter. Ab und an, wendete er seinen Kopf, um sich um zu
sehen. Aber die Verfolger blieben aus. Wie es schien, wollte
Ethnagard kein Risiko eingehen und war weise genug, ihn
nicht beschatten zu lassen.
Doch Willet beschloss nicht sofort zu Phillip zurück zu
kehren. Das Mentaurin lag nicht weit von hier, am Rande
der
Stadt.
Iman
hatte
dort
zu
Lebzeiten
seine
Wertgegenstände hinterlassen und da seine einzige Tochter
dieses Reich nun für lange, wenn nicht für immer, verlassen
musste, machte es wenig Sinn, sie hier in Tarlond zurück zu
lassen. Durch belebte Straßen bahnte er seinen Weg und
verließ den Hafen in Richtung Südstadt. Schon in der Ferne
ragte das gewaltige Bauwerk hervor. Es war das Zentrum der
Gelehrten, ein Ort des Wissens. Aber nur jenen zugänglich,
die auch lesen und schreiben konnten. Iman hatte hier oft
seine Zeit verbracht und Willet hatte sie ab und zu mit ihm
totgeschlagen.
Es kam ihm vor, als würde er in die Vergangenheit reisen, in
eine Zeit die es längst nicht mehr gab.
Immer wieder hielt er inne, um Verfolger auszuschließen.
Denn seit seinem Auftritt, vor zwei Tagen, kannte jeder sein
Gesicht.
Auch
sein
Arm
schmerzte wieder.
Ein
gutes
Zeichen. Sein Körper war augenscheinlich dabei, das Gift zu
überwinden.
Nach
einer
halben
Stunde,
erreichte er
schließlich
den
gewaltigen Kuppelbau. I
Ihm war klar, dass er mit der alten Kleidung nicht wie ein
Student aussah, aber wenn er den Hut abnahm, hatte er
zumindest das Alter. Die großen Flügeltüren standen offen.
In der großen Vorhalle war es angenehm kühl und dunkel.
Der gesamte Raum stellte einen großen Sonnenkalender
dar. Man konnte nicht nur die genaue Tageszeit ablesen,
sondern auch die Jahreszeit. Es war die erste Stunde, des
achten Mondzyklus. Der Moment, an dem er das letzte Mal
hier sein würde.
Wie immer war die Halle von Gelehrten besucht. Und die
graue Empfangsdame hinter dem Pult schenkte ihm ihr
mütterliches Lächeln.
„ Herr Northgod. Ich hab sie lange nicht gesehen. Auch ihren
Vater, wie geht es ihm?“
„ Ich hoffe besser. Er weilt nun im Reich seiner Ahnen.“
„Was? Aber das ist ja furchtbar! “
„Es war ein Hinterhalt. Er wurde nachts überfallen.“ „ Nein wie schrecklich. Er war so ein guter Mensch. Wenn es
etwas gibt was ich für sie tun kann, so sagen sie es mir bitte.“
„Ja, vielleicht. Gibt es jemand der sich nach mir erkundigt
hat? In den letzten Tagen, womöglich?“
„Erkundigt? Nun, tatsächlich, jetzt, wo sie es sagen, fällt es
mir wieder ein. Ein Mann war hier, erst heute Morgen. Ein
wohlhabender, blonder Herr. Er wollte wissen, ob sie schon
hier waren. Aber ich hab ihm gesagt, ich hätte sie lange Zeit
nicht gesehen.“
Willet sah sich um. Aber niemand stand hinter ihm. Also
beugte er sich noch tiefer über das Pult.
„Das war mein Onkel“, flüsterte er „ er will das Testament
meines Vaters anfechten.“
„Wirklich? Aber er war so charmant.“
„Um euch zu täuschen“, versicherte Willet, „ sollte er
je
wieder auftauchen, sagen sie ihm nicht, dass ich hier war.“
„Nun, wenn das so ist?
Wer hätte
so was denn
ahnen
können?“
„Danke, ihr seid eine große Hilfe.“
Er nickte zum Abschied und machte auf den Weg in die
Bibliothek.
„Seraphim! Dieses miese Schwein!“
In Gedanken umgriff er sein Messer, ohne es aus dem
Mantel zu ziehen. Vielleicht war er noch hier und sein Hass
nicht vergebens.
Die Bibliothek war verwinkelt. Hohe Regale türmten sich
auf und Sitzbänke offerierten einen Platz zum Verweilen. Er
streifte umher und blickte sich um. Doch niemand sah ihm
ähnlich, weder in Gesicht, noch Gestalt.
Also besann er sich wieder seines ursprünglichen Anliegens.
Das Geheimfach.
Es lag wohl an Imans Vorliebe für Geschichte, dass er es
ausgerechnet
in
diesem
Bereich
der
Bibliothek
angelegt
hatte.
Die Chroniken
von
Herlond umfassten
an
die
Hundertzwanzig Werke. Sie waren alphabetisch geordnet,
die meisten auf Augenhöhe, aber nur eines davon hatte
Iman gehört. Das zweiundneunzigste Exemplar mit einem
goldenen „ V“ auf dem Buchrücken. „ Schon kapiert“, murmelte Willet und zog es heraus. Der Stein dahinter war
lose
und
gab
einen
Hohlraum
frei.
Als
Willet
sich
unbeobachtet fühlte, griff er hinein. Darin
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