Augen für den Fuchs
Sachsen auch honorierte. Das Gegenteil schien der Fall zu sein. Er konnte manchen Ostdeutschen und dessen Wut sogar verstehen. Wenn man in die Ministerien in der Landeshauptstadt schaute, fanden sich da oft nur westdeutsche Inzucht und ostdeutsche Karrieregeilheit. Keine gute Mischung. Und Miersch gehörte dazu.
Die sofortige Versetzung in den Ruhestand hatte Miersch mehrmals erwogen. Seine Abdankung hatte er sorgfältig formuliert, aber nie eingereicht. Er wollte nicht kapitulieren. Aber er konnte mit niemandem über diese Pläne diskutieren. Margo interessierten weder sein Job noch seine Sorgen. Auch die Töchter lebten ihr eigenes Leben. Mit seiner Sekretärin verbot sich jedes Gespräch über das Thema. Und von den Bekannten aus seinem Umfeld, Kommunalpolitikern oder Kollegen, vertraute er keinem. Miersch wurde sich bewusst, dass er in Leipzig wie auf einer einsamen Insel lebte. Sowohl im Präsidium wie auch hier zu Hause in seinem Bett.
Miersch hörte in Gedanken die Stimme Annes. Sie hatten bereits zwei Jahre davor eine Leiche gefunden. Hier im Park. Im Gebüsch. Nur notdürftig mit ein paar Blättern bedeckt. Schrecklich zugerichtet, die Augen zerstochen. Und kein Jahr später fand man wieder ein Mädchen. Bei Naunhof an den Autobahnteichen. Tot. Vergewaltigt. Und wieder mit zerstochenen Augen.
Über diesen Fall musste doch etwas in Erfahrung zu bringen sein.
Hajo hat dem Mädchen nicht die Augen ausgestochen. Das hätte er niemals tun können. Mein Hajo hat sie nicht getötet!
Meldungen, Berichte, Akten musste es darüber geben. Miersch interessierte der Mord, nicht weil er sich mit der Geschichte der Volkspolizei beschäftigte, sondern weil Anne ihn beeindruckt hatte. Sie hatte diese Ungewissheit über die Schuld oder Unschuld des eigenen Vaters nicht verdient. Vielleicht konnte er ihr etwas über Hintergründe und Ermittlungen sagen. Miersch glaubte allerdings nicht, dass man Unschuldige des Mordes verdächtigte und das der Familie so vor den Kopf knallte. Selbst im Sozialismus … aber was hatte man nicht alles ans Licht gezerrt? Vom IM Ibrahim Böhme bis zu den Rosenstolz-Akten, von Hinrichtungen per Fallbeil bis Auftragsmorden im Westen.
Tot. Vergewaltigt. Und mit zerstochenen Augen. Fünfundzwanzig Jahre her war dieser Mordfall in Machern. Die Akten würden vielleicht noch nicht im Staatsarchiv liegen. Er würde sie im eigenen Haus zur Einsicht anfordern. Sie interessierte ihn nicht nur als Fall. Brigitte Rademacher hieß die Herrin der Akten im Polizeiarchiv.
Miersch würde sie anrufen und nach der Akte fragen. Nur, unter welchem Namen sollte die Rademacher suchen? Er kannte weder Namen der Opfer noch den des Täters, Annes Vater. Hajo ist kein Mörder!
Ein Blick ins Internet ließ ihn wissen, dass die Inhaberin des Hauses Zu den alten Eichen eine Rosalinde Popp war – die Rosel mit der guten Marmelade. Hajo Popp, Hansjoachim. Er würde es damit versuchen.
»Ja, bitte?«
»Frau Rademacher, hier Kriminaldirektor Miersch. Mich interessiert ein Fall, zu dem ich wenige oder gar keine Daten habe. Sexuell motivierter Serienmord 1983/84 im Ostraum Leipzigs. Naunhof. Machern. Autobahnteiche. Den Opfern wurden die Augen ausgestochen. Ich weiß von drei Toten und habe leider nur den Namen des mutmaßlichen Mörders, unter Vorbehalt. Hansjoachim Popp könnte er geheißen haben. Geben Sie mir Bescheid, sollte sich die Akte in unserem Bestand befinden?«
Ihre Stimme klang erstaunlich tief. »Den Augensammler meinen Sie. Sicher, Herr Direktor, sicher. Ich erinnere mich daran, das war damals Stadtgespräch. Ein Serientäter, Sexualmord, das war ein Ereignis, und dann so brutal, den Mädchen die Augen auszustechen. Jahrelang hat man darüber gesprochen. Daran erinnern sich noch viele.«
Miersch hörte Brigitte Rademacher einen Stuhl suchen, konnte ihr Interesse durchs Telefon förmlich spüren. Den Augensammler hatten sie diesen Mörder genannt. Nachvollziehbar. »Sie können sich daran erinnern?«
»Selbstredend. Ich war achtzehn und habe genau in sein Raster gepasst, jung, blond, blaue Augen. Was hat mir meine Mutter für Vorträge gehalten! Wir haben doch damals nicht an Vergewaltigung und Mord gedacht, wenn wir mit unseren Rädern nach Naunhof gefahren sind zum Baden. Und nicht nur das haben uns unsere Mütter verboten. Disco und Zelten und die Jungs sowieso. Wir haben es trotzdem getan. Und schön war’s.«
Miersch konnte ein leises Lachen im Telefon hören. Wahrscheinlich erinnerte sich Brigitte
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