Augen für den Fuchs
Ringen, die Vertrauensstellung, die sie im Rahmen der sozialistischen Rechtsordnung innehatten, voll auszufüllen. Solche klaren Kampfpositionen waren notwendig, um die gesellschaftliche Wirksamkeit von Vorbeugung und Bekämpfung der Kriminalität weiter zu erhöhen.
Auch Miersch wünschte sich manchmal Druckmittel, um Schlendrian und Apathie begegnen zu können. Doch was er hier las, glich einem utopischen Roman, hatte nichts mit seiner Lebenserfahrung gemein. Wirklich ein anderes Land, die DDR.
Die Kriminalisten mussten in ihrer Tätigkeit stets von der Tatsache ausgehen, dass das, was für sie tagtägliche Arbeit ist, für die Bürger, mit denen sie bei Anzeigenaufnahmen, Befragungen und Zeugenvernehmungen zusammenkamen, eine außergewöhnliche Situation darstellt. Dieses Herangehen war insbesondere zur Ausgestaltung eines bürgernahen Arbeitsstils unerlässlich.
Allein schon der Sprachstil war schwer verständlich, vom Inhalt ganz zu schweigen. Oder suchte er Fakten, wo’s keine gab? Die Kollegen hatten stets vom Zwischen-den-Zeilen-Lesen gesprochen. Diese Fähigkeit beherrschte Miersch nicht.
Zu den Schwerpunkten der kriminalpolizeilichen Tätigkeit gehörten die Verhütung jeglicher Straftaten, die sich gegen die staatliche Ordnung richteten, das vorbeugende Wirken zur Verhinderung von Schädigungen bzw. Verlusten materieller und finanzieller Mittel in der Volkswirtschaft und die Aufdeckung und umfassende Auswertung der Ursachen von Störungen, Havarien und Bränden sowie die Vorbeugung und Aufklärung aller Straftaten gegen das Leben und die Würde der Bürger.
In diesem Kauderwelsch erfuhr er sehr wenig über die Geschichte der Deutschen Volkspolizei und nichts, was ihm half. Der Kauf dieses Buches erwies sich als Fehlinvestition. Miersch hatte gehofft, Einblick in Arbeit und Verhaltensweisen der Polizisten in der DDR zu erhalten. Was er erfuhr, waren Verlautbarungen, die dem Sozialismus zum Siege verhelfen sollten. Miersch nahm nicht an, dass Lügen niedergeschrieben waren, es war nur verdammt uninteressantes Zeug und las sich wie ein fünfhundert Seiten langes Pamphlet ohne Inhalt. Er fragte sich, was eine solche Veröffentlichung bezwecken sollte. Sie war weder für an der Polizeiarbeit Interessierte noch Studenten geeignet. Komischer Text, komisches Land, seufzte Miersch, je länger er sich mit ihm beschäftigte, desto fremder und unerklärlicher wurde ihm das andere Deutschland. Er legte das Buch auf den Nachttisch und versuchte, Ruhe zu finden.
Miersch hatte im Kapitel Die Gewährleistung von öffentlicher Ordnung und Sicherheit in der ersten Hälfte der achtziger Jahre nachgeschlagen. Vielleicht hatte er gehofft, einen Hinweis auf das Verbrechen im Haus Zu den alten Eichen zu finden. Wenn Anne ihm die Wahrheit erzählt hatte. Miersch hatte Bücher zur Entwicklung von Polizei und Verbrechensaufklärung in verschiedenen Ländern gelesen. Scotland Yard, FBI, Sûreté – gemeinhin berichteten die Autoren in chronologischer Folge die spektakulärsten Fälle der kriminalistischen Arbeit. Die Geschichte der Deutschen Volkspolizei dagegen betrieb eine Geschichtsschreibung, die mit der eigentlichen Arbeit der Sicherheitskräfte kaum etwas zu tun hatte. Seitenlang wurden Grußadressen und Gesetzestexte aufgelistet, es wurden Verpflichtungen im Kampf um den Titel Kollektiv der sozialistischen Arbeit zitiert, Miersch las über Appelle, Kongresse und Ordensverleihungen. Volkspolizisten erfüllen zuverlässig den Klassenauftrag! Danke schön auch.
Seinen Rückzug aus der derzeitigen Hetzjagd würden ihm die Kollegen als Schwäche auslegen. Miersch war das egal. Sein Verhältnis zu den Untergebenen war mit den Jahren, die er in Leipzig Dienst tat, eher schlechter denn besser geworden. Zu Beginn vermeinte er noch, Interesse und Hochachtung zu verspüren. Mittlerweile schien es ihm, dass nicht nur die Angestellten im Polizeidienst über ihn lachten, sondern die ganze Stadt. Kripochef außer Rand und Band?
Miersch hatte Bayern nicht ganz uneigennützig verlassen. In der Beamtenhierarchie dort hätte er jahrelang auf seine Aufstiegschancen warten müssen, und die wurden nach Dienstjahren und Parteizugehörigkeit bemessen. Natürlich hatte er die sich bietenden Wege genutzt, die ihm schneller Einfluss und ein höheres Gehalt verschafften und hatte sich in den Osten verpflichtet. Chancen galt es zu nutzen. Nur hatte er erwartet, dass man seine Unterstützung im demokratischen Aufbau von Polizei und Freistaat
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