Augen für den Fuchs
Miersch hatte Gemeinschaftsfahrten immer gehasst. Er erinnerte sich an Pfadfindertreffen und Ministrantenausflüge. Seine Mutter hatte ihm immer Fresspakete in den Rucksack gesteckt. Mit selbst produziertem Schinkenspeck, Käse und den leckeren Keksen von Dahlsen. Er hatte sich nie ums Essen am Büfett gestritten. Oft war er im Zelt sitzen geblieben und hatte den anderen die Schlacht überlassen.
»Johannisbeer isch alle. Was willschde denn dann?«
»Kaffee.«
Erstaunlicherweise hielten sich die Plünderungen in Grenzen. Miersch konnte noch von Mehrkornbrötchen bis Baguette wählen, von Putenbrust bis Camembert. Er träufelte sich zwei Schälchen voll mit Rosels Marmelade: Himbeer und Zwetschgen. Die Kellnerin wuselte herum und brachte Kaffeekännchen und Tee. Ihn übersah sie. Wahrscheinlich hatte Anne verboten, ihn zu bedienen.
Miersch schmierte sich Brötchen und trank den Saft von der Theke. Er bemühte sich, hinter die Tür in die Küche zu sehen. Aber er entdeckte weder Anne Popp noch ihre Mutter.
»Wir würden uns freuen, wenn Sie Ihre Rechnung begleichen würden.« Die Kellnerin schob ihm einen Zettel unter den Teller und lächelte entschuldigend.
»Ich würde gerne länger bleiben.«
»Mutter möchte das nicht. Suchen Sie sich bitte ein anderes Hotel.«
»Sie sind Annes Tochter?« Miersch sprach ins Leere, denn die Kellnerin war bereits auf dem Weg zur Küche und drehte sich nicht zu ihm um. Er besah sich die Rechnung und staunte wieder über die lächerlich niedrige Summe. Sie schien im Vergleich zum letzten Mal sogar gesunken. Mit solchem Preis konnte Anne diese Pension nicht in die Gewinnzone wirtschaften. Oder die Wirtin hatte ihm einen Sonderpreis für sein schnelles Verschwinden eingeräumt. Aber sicher war sich Miersch nicht, ob sie wirklich wollte, dass er wieder ging, und es verstärkte seinen Entschluss zu bleiben. Er holte sich noch einmal Konfitüre und Brot.
Die Reisegesellschaft unterhielt sich bei Kaffee und O-Saft und wartete auf den Beginn der Weiterfahrt. Miersch hatte bei den Gesprächen etwas von Ostsachsen und Polen verstanden. Vielleicht war es eine Informationsreise für Rentner, die ihren Lebensabend in Görlitz verbringen wollten. Görlitz war im Gespräch. Prospekte warben für diese Stadt mit billig, seniorengerecht und herrlicher Umgebung. Verlegen Sie Ihren Wohnsitz. Bei uns schlafen Sie gut. Probewohnen unter …
Die Kellnerin drehte mit einer neu gefüllten Kaffeekanne die Runde. Als sie an Mierschs Tisch vorbeikam, würdigte sie ihn keines Blickes. Er fasste nach ihrem Arm. Die junge Frau hatte die Kanne erhoben, als wollte sie ihn damit schlagen.
»Bitte, zwei Minuten«, sagte er.
Sie blieb an seinem Tisch stehen. Miersch tippte mit dem Finger auf die Akte Hans-Joachim Popp. Ihre Augen hefteten sich auf den Deckel. Sie begriff offensichtlich, dass es die Kriminalakte war, und widerstand dem Impuls, sie sofort zu öffnen.
»Halten Sie Ihren Großvater für einen Mörder?«, fragte Miersch.
Sie wendete ihm erschrocken ihr Gesicht zu. »Nein! Aber nein! Das kann man nicht glauben. Und wissen tun wir es nicht. Zumindest sagen das Mutter und Oma.«
»Das ist die Akte …«
Er durfte jetzt nicht die falschen Worte wählen. Annes Tochter hörte ihm zu, aber sie würde ihn beim ersten falschen Satz sofort rauswerfen, da war sich Miersch sicher. Er bat um einen Schluck Kaffee. Sie schenkte ihm ein. Er genoss ihn. Sie betrachtete die Akte wie einen Stein vom Mond. Interessiert, aber anfassen mochte sie die Papiere nicht.
Die Reisegesellschaft hatte das Frühstück beendet, unter lautem Reden verließ sie den Gastraum in Richtung Koffer und Bus. Ein Mann griff zu den Schinkenscheiben und stopfte sie sich in den Mund. Eine Dame mit Hut stolperte über ihre zu Boden gefallene Handtasche. Ein Galan griff der Frau unter die Arme. Die Touristen verließen das Haus Zu den alten Eichen. Jetzt war der Moment gekommen, in dem sich entschied, ob Miersch noch bleiben durfte.
»Vielleicht können wir den Beweis seiner Unschuld finden.« Sie sagte es leise und ohne Betonung.
Miersch klopfte auf die Akte. »Sie lag noch in unserem Archiv. Ich habe sie mir geben lassen.« Dass er sie widerrechtlich bei sich trug, verschwieg er. »Ich möchte Ihnen helfen …«
»Und wir sollen vergessen, was in der Zeitung über Sie steht?«
»Sie dürften begriffen haben, dass Zeitungen ihre Schlagzeilen nach den Verkaufszahlen richten, nicht nach der Wahrheit. Ich habe nur meinen Job getan. Ich
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