Augen für den Fuchs
bin kein Verbrecher.« Miersch warb wie ein Politiker ums Wahlvolk. Er wusste, dass die stete Wiederholung der Lüge auch bei kritischen Lesern Wirkung erzielte. Mörder. Monster. Menschenschlächter. Aber er konnte der jungen Frau ihm gegenüber jetzt nicht alle Falschmeldungen widerlegen. Er vermochte es ja nicht einmal bei der eigenen Familie, geschweige denn bei den Kollegen.
»Ich versichere Ihnen, dass ich keine Schuld an dem schrecklichen Geschehen in Serbien trage. Aber ich bin nicht hier, um darüber zu debattieren. Ich bin hier als Privatmann, meine dienstlichen Verpflichtungen ruhen.«
Offiziell hatte Miersch mit niemandem darüber gesprochen, doch er brauchte Ablenkung. Der Fall des Augensammlers kam ihm gelegen. »Ich habe hier die Akte der Morde, derer Ihr Großvater verdächtigt wurde. Wenn Sie es wünschen, kann ich Sie bei den Recherchen unterstützen.«
Die junge Frau schwieg, schaute auf Mierschs Tasse, als könne sie darin im Kaffeesatz lesen. Zögernd griff sie nach der rosa Akte mit schwarzer Schrift. Sie strich darüber und traute sich nicht, sie aufzuschlagen. Miersch ließ ihr Zeit. Im Augenwinkel bemerkte er, dass Anne Popp hinter der Theke stand. Er fühlte sich von ihren Blicken getroffen. Wie Schüsse. Aber die Wirtin sagte nichts, knetete ein Wischtuch in ihren Händen, dann ordnete sie die Auslagen des Frühstücksbüfetts.
»Darf ich nach Ihrem Namen fragen?« Er sprach behutsam und leise.
»Gunda. Gunda Popp. Ich habe diesen Namen nie schön gefunden. Aber mittlerweile habe ich mich an ihn gewöhnt.«
»Studieren Sie?«
»Tourismusmanagement in Wernigerode. Schöne Stadt. Es heiraten viele in dem herrlichen Rathaus dort.«
Vielleicht wollte sie vom Thema ablenken. Wernigerode lag im östlichen Harz. Von dem Rathaus wusste er nichts. Miersch war noch niemals im Harz gewesen. Margo hatte mit ihren Freundinnen mehrmals den Brocken bestiegen. Oder sie war auf ihn gefahren. Es interessierte ihn nicht.
»Hat man Ihnen von den Morden erzählt?«, fragte er.
»Wenig. Ich war kaum geboren, als sie geschahen. Mutti und Oma sprechen nicht gern darüber. Und ich frage nicht danach, weil ich weiß, das ist ein Thema, über das sie lieber schweigen.«
Anne Popp richtete die Büfettteller und ließ sie dabei nicht aus den Augen. Gunda schenkte Miersch Kaffee nach. Er fühlte sich beruhigt, obwohl er sich nicht recht erklären konnte, warum.
»Sie kennen die Fakten?«
»Was heißt Fakten? Ich weiß, dass Anfang der Achtziger hier in der Gegend ein Mörder jungen Frauen die Augen ausgestochen hat. Noch heute erzählen die Leute davon. Als Kind hat uns einer aus meiner Klasse an die Tatorte geführt, damit wir uns gruseln. Haben wir auch. Heute vermarktet man solch schlimme Geschichten.«
Gunda erhob sich und ging zu ihrer Mutter, vielleicht, um ihr von der Akte zu erzählen. Anne Popp redete ihr offensichtlich ins Gewissen. Miersch verstand die Worte »Unverschämtheit, Verbrecher, Behördenarsch.« Er bemühte sich, nicht zu den Frauen zu blicken. Auf einer der Fotografien an der Wand meinte er Walter Ulbricht zu erkennen. Der DDR-Staatschef gab sich volksnah und besuchte die Bauern bei ihrer Feldarbeit, lachende Frauen unter Kopftüchern, Traktoristen mit ölverschmierten Oberarmen und goldene Garben. Solch ein Gemeinschaftsleben war auf den Abbildungen westlicher Landwirtschaft niemals zu sehen. Das war der Osten gewesen. Neben Ulbricht hing ein Plakat mit der Aufschrift Junkerland in Bauernhand.
Gunda sprach noch immer mit ihrer Mutter. Die warf schließlich das Wischtuch auf den Tresen und knallte die Tür zur Küche zu. Gunda nahm wieder neben Miersch Platz und goss sich Kaffe in eine Tasse, die sie sich mitgebracht hatte. Sie war bereit, mit ihm zu reden, allen Vorurteilen zum Trotz.
»Wie ist Ihr Großvater gestorben?«
»Mein Onkel hat ihn getötet. Er war gerade mal sechzehn, als ihm klar wurde, dass sein Vater der Mörder war. Es ist zum Streit zwischen den beiden gekommen. Er hat sich umgebracht, nachdem er seinen Vater getötet hatte. Er hing in der Scheune. Opa lag auf dem Heuwender in den Sitzen der Gabeln. Großmutter hat sie beide gefunden.« Gunda rührte mit dem Löffel in ihrem Kaffee.
»Aber Ihre Großmutter glaubt nicht an die Schuld ihres Mannes …«
»Sie glaubt nicht daran.« Gunda sah Miersch ins Gesicht.
»Die Tatsachen sprechen dagegen: Die Morde haben aufgehört, nachdem Ihr Großvater tot war. Der Augensammler ist nie mehr in Erscheinung
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