Augen für den Fuchs
getreten.«
Gunda blätterte in der Akte. »Sie sind sicher derselben Meinung.«
»Ich bin Ermittler, ich sammle Fakten. Eine Meinung dazu habe nicht.« Noch während er sprach, wurde Miersch klar, dass er auswich. Ja, er zollte den Ermittlern von der Volkspolizei seinen Respekt. Er hätte die Ermittlungen nicht anders geleitet. Sie waren logisch, exakt und ohne erkennbare Fehler. Diese Tatsachen ließen keinen anderen Schluss zu: Hans-Joachim Popp war der Mörder. Er war jener Augensammler, der in den Wäldern um Machern junge Frauen abgeschlachtet hatte. Sein Sohn Sebastian hatte ihn gerichtet und sich danach selbst das Leben genommen. Der Fall war geklärt.
Natürlich verstand Miersch, dass Gattin und Tochter mit dieser Wahrheit nicht leben wollten. Aber dass sie niemals Einspruch erhoben, keinen Rechtsanwalt beauftragt hatten, den Fall zu untersuchen, schien ihm Indiz, dass sie die Tatsachen im Stillen doch akzeptiert hatten. Er konnte ihnen nur das Gleiche sagen wie die Akte: Hajo Popp war der Mörder. Auch wenn Rosel und Anne es noch immer nicht wahr haben wollten.
»Wie kann ich Ihnen beim Wiederaufrollen des Falles helfen?« Gunda hatte Vertrauen gefasst und nahm die Wut ihrer Mutter in Kauf. Miersch musste behutsam vorgehen, um das Gesprächsangebot nicht wieder zunichte zu machen.
»Sagen Sie mir alles, was Sie über den Augensammler wissen.«
»Ich weiß nur, was alle erzählen. Und das habe ich Ihnen bereits gesagt.«
»Aber warum stellen Ihre Mutter und Großmutter die Tatsachen in Zweifel?«
»Wären Sie gerne das Kind eines Mörders?«
Die Taktik der Gegenfragen war stets ein Zeichen der Unsicherheit. Miersch hatte es in den Jahrzehnten seiner Ermittlungsarbeit immer wieder erlebt. Gunda nippte an der Kaffeetasse und sah ihn mit großen Augen an. Er glaubte, Hoffnung darin zu lesen.
»Ich muss Ihnen sagen, dass ich in den Ermittlungen keinen Fehler finden kann. Ihr Großvater konnte zu keiner der Tatzeiten ein Alibi vorweisen, oder von ihm genannte Alibis waren nicht sicher. Ihre Familie war in Naunhof baden, als der Mord an Viola Kumbernuss verübt wurde. Das Gasthaus liegt keine zweihundert Meter vom Park entfernt, in dem Anke Michelsen ermordet wurde. Ihr Großvater kann also auch diesen Mord begangen haben. Nach seiner Aussage hat er in der fraglichen Zeit eingekauft. Aber die von ihm angegebenen Zeiten weisen Lücken auf, die ausgereicht hätten, um den Mord zu begehen. Und der dritte Mord geschah hier im Hause.« Miersch holte tief Luft. »Viel Hoffnung habe ich nicht, dass wir nach fünfundzwanzig Jahren Beweise für seine Unschuld finden.«
»Warum sind Sie dann hier?«
Darauf konnte Miersch nichts sagen. Wenn er ehrlich war, war Anne Popp der Grund. Ihn hatte die Wirtin beeindruckt.
Attraktiv, geschäftstüchtig und einsam, hatte er bereits nach seinem ersten Besuch geschlussfolgert. Er wollte ihr helfen. Aber das konnte er Gunda nicht sagen. Doch er hatte mit dem Fall des Augensammlers eine Aufgabe, die ihn seinen Job, die Medienhatz und Margo vergessen ließen. Immer noch sah er Simona Thede zum Schlag ausholen, spürte er ihre Hand auf seiner Wange.
»Wäre Ihre Mutter bereit, mit mir darüber zu sprechen?« Er glaubte, rot zu werden, als er Anne erwähnte. »Oder Ihre Großmutter?«
Gunda schwieg und fuhr mit dem Finger über das Tischtuch. Miersch trank die Kaffeetasse leer und nahm einen Löffel der Himbeermarmelade. »Schmeckt lecker.«
»Ich versuche, Mutter von Ihrem ehrlichen Interesse zu überzeugen. Aber ins Herz geschlossen hat sie Sie nicht.« Gunda zögerte. »Und ich weiß auch nicht, was Sie bewegt, diesen Fall neu aufzurollen.«
Miersch ging auf die indirekte Frage nicht ein. »Was kann ich tun, um das Vorurteil Ihrer Mutter mir gegenüber zu entkräften?«
»Vielleicht reden Sie mit dem damaligen ABV. Jens Günthardt. Er wohnt die Straße weiter runter, Richtung Leipzig. Sein Sohn betreibt eine Umzugsfirma. Sie wollen – wir rollen!«
ABV? Miersch wusste nicht, welchen Job Jens Günthardt damals ausgeübt hatte. Mit ihm reden würde er, aber er würde Gunda nicht nach der Erklärung dieser Abkürzung fragen. Stattdessen fragte er: »Haben Sie Zugang zum Internet?«
»Gehört zum Service. Computer steht im Gesellschaftszimmer. Nächste Tür links.«
»Machen Sie mir noch einen Kaffee?«
Gunda drückte ihm die Thermoskanne in die Hand. »Viel Erfolg.«
In der angelehnten Tür zur Küche meinte Miersch, Annes Gesicht zu erkennen. Er nahm seinen
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