Augen für den Fuchs
Günthardt kam mit einer Flasche Bier in der Hand aus der Küche. Günthardt öffnete sie und trank. Dann fuhr er sich mit der Hand über den Mund. »So! Jetzt fühle ich mich als Mensch.«
Frau Günthardt lächelte und verließ wortlos die Stube.
»Gunda hatte gemeint, dass auch Sie nicht an die Schuld ihres Großvaters glauben.« Miersch versuchte, den ehemaligen Volkspolizisten aufs Thema zurückzubringen.
»Was ich glaube und was nicht, interessiert keinen.« Er klang nicht so, als würde er Miersch Auskunft geben wollen.
»Aber ich verstehe Sie doch richtig, dass Sie meinen, Hajo Popp sei nicht der Augensammler gewesen.«
Jens Günthardt nahm umständlich und ächzend neben ihm Platz. Sein athletischer Eindruck war offensichtlich eine Täuschung gewesen. Er wirkte jetzt alt. Weit über die Rente musste er sein. Über die siebzig schätzte ihn Miersch. Der ABV trank seine Bierflasche aus und stellte sie an den äußersten Rand des Tisches. Vielleicht sah das seine Frau als Aufforderung, ein neues Bier zu bringen.
»Warum graben Sie diesen Fall wieder aus. Fürs Fernsehen? Da würde sich meine Frau freuen.« Günthardt lehnte sich im Stuhl weit zurück und fuhr mit den Daumen unter seinen verdreckten Blaumann. »Also, warum interessiert Sie der Fall!«
Das war keine Frage, das war ein Befehl. Der alte Polizist musterte Miersch, als ob er ihm nicht traute. Gemütlich war dieser Mann keineswegs, auch wenn er auf den ersten Blick so wirkte.
»Ja, also …« Miersch kam ins Stammeln. »Die alte Rosel meinte … Und da habe ich mir die Akte besorgt …«
»Und jetzt wollen Sie uns nachweisen, dass wir schlechte Arbeit geleistet haben.«
»Aber nein!« Nachweisen wollte Miersch nichts, er wollte für Anne, Gunda und Rosel Gewissheit schaffen und wunderte sich, dass dies noch keiner getan hatte. Langsam fasste er sich.
»Wir haben gute Arbeit geleistet. Die lasse ich mir von solchen Typen wie Ihnen nicht in den Dreck ziehen!«
Miersch ging nicht auf die Wut des Alten ein. »Mir scheinen die Zweifel der Frauen berechtigt. Ich will Ihre Arbeit nicht kritisieren, aber vielleicht war Hajo Popp ja doch nicht der Mörder. Auch wenn es die Akte sehr nahelegt.«
»Die Akte! Wissen Sie, ob’s die Originale sind?«
Das wusste Miersch nicht. Aber Günthardts Haltung entspannte sich. Seine Aggressionen schienen verflogen, offensichtlich war er jetzt zugänglicher und bereit zu reden.
»Sie hätt es verdient, ein bissel Glück mal zu haben. Schon ’ne tolle Frau, die Anne.«
Dieser Satz traf Miersch wie ein Faustschlag. Er zuckte zurück und fühlte sich von Günthardt durchschaut. Ihm blieb nur die Hoffnung, dass der Mann diesen Satz nur so dahergesagt hatte. Miersch wollte nicht auch noch zu solchen Spekulationen Anlass geben. Er goss sich aus der Kanne Kaffee nach.
Günthardt blickte ihm in die Augen. »Es wäre schön, wenn die Frauen Gewissheit hätten.«
»Ja.«
Und dann sah es für einen Moment so aus, als wollte ihm Günthardt auf die Schulter klopfen. »Sie haben recht, ich denke nicht, dass Hajo der Mörder war. Wir haben zusammen Fußball gespielt, da lernt man sich kennen.« Er schaute an die Decke des Zimmers, als würde er dort seine Worte ablesen.
»Ich traue ihm diese Morde einfach nicht zu. Und Augen ausstechen … Ich kann mir’s nicht vorstellen. Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, warum einer so etwas tut.«
Miersch hätte ihm einen Vortrag über Perversionen halten können. Die Zeitung vermeldete täglich die absurdesten Taten. Kind im Gulli. Kastrationen. Ritualmord. Nekrophilie. Der Furchtbarkeiten kein Ende.
»Nein, der Hajo war’s nicht. Der wurde zum Sündenbock gemacht. Die Akte wurde zu schnell geschlossen. Meine ich.«
»Wollen Sie damit sagen, dass befohlen wurde, die Akte zu schließen? Wollte man jemanden decken?«
»Dazu kann ich nichts sagen. Aber der Herr Major war sehr eifrig bemüht, diesen Fall geklärt zu haben. Warum? Keine Ahnung.« Günthardt blickte noch immer an die Stubendecke, dann sah er Miersch an. »Sie glauben ja wohl dran … an den Gott.«
Das klang ironisch. Und Günthardt schien auch wirklich zu lächeln. Aber Miersch stand dazu: Ja, er glaubte, glaubte an Gott. Mehr oder weniger.
»Sie meinen, als Täter kam Hajo Popp den Ermittlern gelegen? Aus Gründen der Staatsräson wurde nicht weiter ermittelt?« Miersch langte zum nächsten Keks und ließ Günthardt dabei nicht aus den Augen.
»Staatsräson, so hoch würde ich’s nicht anbinden wollen.
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