Augen für den Fuchs
wieder in seinen unruhigen Schlaf verfallen, und Alexia, die treu sorgende Seele, hatte aus Mitleid und falschem Verständnis für diese Zeit der ungestörten Regeneration gesorgt. Bevor Kohlund in größere Wut kam, erinnerte er sich, dass er selbst, bevor er ins Bett gegangen war, beschlossen hatte, den Tag nicht im Präsidium zu verbringen. Er musste sich Rat holen, den ihm Alexia oder die Hohmann oder Schmitt nicht geben konnten. Nur einen konnte er in dieser Situation fragen. Kohlund beschloss, seinen ehemaligen Chef zu konsultieren. Hartmut Queißer hatte ihm oft geholfen, guten Rat hatte er immer.
Allerdings war sich Kohlund nicht sicher, ob ihm Queißer überhaupt einen Rat geben würde. Kohlund quälte das schlechte Gewissen. Er hatte sich immer wieder vorgenommen, den Alten zu besuchen. Früher waren er und seine Familie oft bei Queißer gewesen. Aber Kohlund hatte ihm Grischa Merghentin auf den Hals gehetzt. Als Chef hatte er es für eine gute Idee gehalten, den gelähmten Kollegen mit einem unlösbaren Fall der Vergangenheit zu betrauen. Offenbar verstanden sich der schwule junge Wessi und der verbitterte alte Ossi prächtig. Er hatte gewollt, dass sich Merghentin die Zähne ausbiss. Aber die beiden hatten gemeinsam den Fall eines nicht identifizierbaren Toten geklärt. Oder wenigstens beinah geklärt. Seitdem war Queißers Sympathie, die er bislang Kohlund entgegenbrachte, offenbar auf Merghentin übergegangen. Und in seltenen Minuten gestand Kohlund sich ein, dass er darauf eifersüchtig war. Sollte er Queißer trotzdem fragen?
Im Kühlschrank stand unter Folie ein Teller mit belegten Broten. Offenbar hatte Alexia sie ihm schon geschmiert und bereitgestellt. Kohlund wagte nicht zu entscheiden, ob sie dies aus Liebe, Bevormundung oder Angst getan hatte. Er schmierte sich seine Stullen doch selbst. Er griff zu Milch und Müsli, schnitt einen Apfel und würgte das Frühstück hinunter, um wenigstens etwas im Magen zu haben. Auf der Heizplatte der Maschine dampfte noch Kaffee.
Den Alten, Hartmut Queißer, hatte man nach der Wende wegen Systemnähe auf Schonposten geschoben, und bei nächster Gelegenheit war der Major in den Vorruhestand getreten. Würde der ihm überhaupt den rechten Rat geben können? Unvoreingenommen und wertfrei? Queißer trug es dem neuen Staat nach, dass der ihn nicht nach seinen Qualifikationen weiterbeschäftigte, sondern aus seiner Funktion schlussfolgerte, er sei ein Höriger des sozialistischen Regimes gewesen. Überhaupt gefiel dem Alten schon das Wort Regime nicht. Und ehemalige DDR ließ er auch nicht gelten. Sprach man von der ehemaligen Weimarer Republik? Oder dem ehemaligen Römischen Reich? Es war die DDR, und sie blieb es. Ehemalig war sie sowieso.
Kohlund stellte Schüssel und Kaffeetasse ins Aufwaschbecken. Die Lappen hingen gefaltet über dem Hahn. Er wusch das Geschirr ab und verstaute es in den Schränken. Er gestand sich nicht ein, dass er Angst vor den Konsequenzen der Entscheidung hatte. Entweder er würde in privatem Unfrieden leben oder er wurde auf Arbeit geschnitten. Was war richtig? Was war das kleinere Übel? Er schob die Antwort immer weiter vor sich her. Bereits als Kind hatte er die Termine bis zum letztmöglichen Moment verzögert. Aufsätze, Matheaufgaben, Hausarbeiten, Diplomarbeit – er hatte mit der Arbeit immer so spät begonnen, dass er meist den Abgabetermin nicht einhalten konnte. Aber Dr. Hackenberger forderte seine Entscheidung. Kohlund musste einen Standpunkt beziehen. Er wusste noch immer nicht, welchen. Und es war fraglich, ob Queißer die richtigen Argumente für oder gegen den Karrieresprung hatte. Und ein Karrieresprung war es. Ohne Zweifel.
Kohlund griff zu Mantel und Schlüssel. Die Tasche ließ er unter der Garderobe stehen, er brauchte sie nicht. Ein Blick zur Uhr sagte ihm, dass die Beetz die Dienstberatung schon beendet haben musste. Probleme hatte es sicher keine gegeben, sonst hätte ihn Schmitt längst informiert. Er könnte die Hohmann schnell anrufen und nach der Atmosphäre fragen. Das Telefon stand im Flur. Aber auch das wäre nur eine Verzögerungstaktik gewesen. Er knallte die Tür zu und machte sich auf den Weg.
26
Miersch hätte es wissen müssen! Seine Tochter hatte ihm das Navigationsgerät immer noch nicht zurückgegeben. Er musste sich anders orientieren. Die Rademacher hatte ihm die Adresse im Archiv herausgesucht, nachdem er sie diskret darum gebeten hatte. Und nun musste er im Straßenverzeichnis suchen und
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