Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
sie an einer ruhigen, seichten Stelle am Ufer. Ihr Rock hat sich in den Ästen einer umgefallenen Birke verfangen. Wieder fühle ich das Ziehen. Dieses Mal ist es intensiver. Aber ich kann nicht aufhören, ihren leblosen Körper anzustarren. Ihr Oberteil ist offen und bewegt sich im Rhythmus der Strömung. Es gibt den Blick auf ihren übel zerkratzten Oberkörper frei. Ihre Haare umfließen ihren Kopf. Sie erinnern mich an lange Spaghetti. Über ihrem Ohr ist eine tiefe, lilafarbene Furche. Das Wasser hat die Wunde ausgewaschen und man erkennt Knochensplitter und Gehirnmasse.
Seltsamerweise ist der Rest ihres Gesichts makellos. Ihre Arme und Beine hängen in unnatürlichen Winkeln von ihrem Körper und sind von Wunden übersät. Drei ihrer Fingernägel sind nach hinten gebogen – sicherlich von dem festen Griff um Seths Arm.
Das Make-up ist weggewaschen und sie sieht jünger aus undunschuldiger als die Taylor, die ich kenne. Eine unglaubliche Traurigkeit erfasst mich. Keiner verdient es, so zu enden.
Schon wieder fühle ich das Ziehen. Aber ich will noch einmal kurz bei Seth vorbeischauen.
Ich frage mich, wie viele ihrer Freundinnen wussten, dass sie sich mit Seth treffen wollte. Wahrscheinlich alle. Am Felsplateau sehe ich Seth dabei zu, wie er Taylors Sandalen in den Wasserfall wirft und flucht. Seine Schimpfwörter gehen schließlich in ein hilfloses Schluchzen über.
Armer Seth. Ich habe ihn schon oft fluchen gehört, aber noch niemals weinen gesehen. Auch nicht als kleines Kind und nicht einmal, als seine Mutter abgehauen ist. Ich weiß nicht, ob er um Taylor Gleason weint oder weil er den übergroßen Graffiti-Schriftzug auf den Felsen gelesen hat. Dort steht:
Du bist verloren!
Einer der silbernen Knöpfe von Taylors Bluse glänzt im Sonnenlicht in einer Felsspalte. Ein Beweisstück. Ich bringe genug Energie auf, um ihn ins Wasser zu katapultieren. Ich hasse es, Seth hier alleine zu lassen, doch ich muss jetzt wirklich zurück. Das Ziehen hat aufgehört, aber meine Mum wird bald zu Hause sein. Außerdem muss ich mit Rei sprechen. Ich bin die einzige Zeugin. Wenn Taylors Freundinnen mit der Polizei reden, bin ich diejenige, die sich für seine Unschuld verbürgen kann. Er hat versucht, sie zu retten. Das hat er wirklich.
Seth hat aufgehört zu weinen. Er sitzt reglos da, umgeben von einem grauen Schleier. »Geh heim, Seth«, sage ich zu ihm, obwohl er mich nicht hören kann.
Dann kehre ich nach Hause zurück, um Rei die schlechte Nachricht zu überbringen.
8
Jede Religion hat ihre eigene Vorstellung vom Leben nach dem Tod. Die alten Griechen hatten die elysischen Gefilde, die Christen haben den Himmel. Rei hat einmal erzählt, dass Buddhisten glauben, man wird so lange wiedergeboren, bis man erleuchtet ist und ins Nirvana kommt. Ein paar Menschen verschwenden offensichtlich sehr viel Zeit damit, sich Gedanken darüber zu machen, ob einen nach dem Tod etwas anderes erwartet als der ewige Schlaf.
Ich bin mir nur sicher, dass wir alle eine Energie besitzen, die außerhalb unseres Körpers existieren kann. Schließlich bin ich der lebende Beweis dafür. Nur, warum sollte irgendjemand mir glauben? Aber auch sonst spricht einiges dafür: Sogar Schulbücher über Physik sagen, dass Energie nicht zerstört werden kann.
Und was ist mit dem Licht, das angeblich auftaucht, wenn jemand stirbt? Vor ein paar Jahren bin ich im Altersheim meiner Großmutter an einem Raum vorbeigegangen und habe von der Zimmerdecke einen Zylinder aus Licht herabscheinen sehen. Zwanzig Minuten später wurde eine Leiche herausgebracht. Die Sache mit dem Licht stimmt. Aber wohin wandert das Licht? Gibt es einen Ort für richtig gute Menschen? Gibt es wirklich die neun Kreise der Hölle? Ist dieses Licht dein Freifahrtschein zur größten Party des Jahrhunderts oder saugt es deine Seele auf wie ein Vakuum? Keine Ahnung.
Ich kehre in mein Zimmer zurück und halte abrupt an.
Irgendetwas stimmt nicht.
Irgendetwas fehlt!
Ich brauche eine Weile, um zu verstehen, dass mein Bett leer ist. Was fehlt, bin ich. Ich bin nicht da! Ich sehe auf den Boden und unter das Bett, aber ich kann mich nirgendwo finden. Nein,
nein
, NEIN!
Panik steigt in mir hoch wie eine Tsunami-Welle. Wo zum Teufel bin ich? So müssen sich Menschen fühlen, die aus einem Flugzeug springen und merken, dass sie den Fallschirm vergessen haben. Oder Taucher, denen der Sauerstoff ausgeht, oder Menschen, die lebendig begraben wurden!
Ich kann nicht in meinen Körper
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