Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
unglaublich müde. Nicht physisch, aber ich fühle mich wie ein Auto, dessen Batterie leer ist. Es raubt mir unglaublich viel Energie, hier in meinem Haus zu sein – zusammen mit meiner besorgten Mutter und meinem betrunkenen Vater. Und da ich nur aus Energie bestehe, ist das ein echtes Problem.
Eine Vibration lässt mich aufschrecken. Aber es ist nur mein Handy, das immer noch in der Tasche meiner Jeans steckt. Die Hose hatte ich vorher gegen meine Sport-Shorts getauscht, in denen Taylor jetzt gerade schläft. Ich muss gar nicht auf das Display schauen, ich weiß, es ist Rei. Er hat versprochen, mich anzurufen. Ich glaube nicht, dass er zu Hause war, als der Krankenwagen vorgefahren ist. Er denkt jetzt wahrscheinlich, dass ich einfach nur vergessen habe, mein Handy aufzuladen. Meine Schuldgefühle ihm gegenüber machen meine Laune noch schlechter.
Wie erkläre ich ihm nur, was heute Nachmittag passiert ist? Offensichtlich kann ich von dieser Dimension aus nicht mit ihm kommunizieren. Wie kann ich ihm beibringen, dass ich nicht nur seinen Rat missachtet habe, sondern jetzt auch noch wegen meiner eigenen Dickköpfigkeit nicht mehr in meinen Körper zurückkehren kann?
Obwohl ich in meinem eigenen Zimmer bin, habe ich schreckliches Heimweh. Was ich will und was ich
brauche
, ist Rei und die Ruhe, die von ihm ausgeht.
Ich fliege zu seinem Schlafzimmerfenster. Es ist eine warme Nacht und das Fenster steht weit offen. Der harmonische Klang der akustischen Gitarre zieht mich an. Ist das vielleicht sein Überraschungssong? Rei spielt nach Gehör. Er hört ein Lied auf seinem iPod und spielt dann die Akkorde nach. Er wiederholt sie immer und immer wieder, bis er sie auswendig kann. Manchmal googelt er auch den Songtext und singt mit. Obwohl er auf Heavy Metal steht, weiß er, dass seine Stimme besser zu akustischer Musik passt. Was auch immer er sich selbst heute Nacht beibringt, es hört sich wunderschön und sehr kompliziert an.
Ich rolle mich zu einem Ball zusammen und schwebe auf Höhe des Fensters. Die Musik beruhigt und tröstet mich, wie eine Tasse heißer Tee an einem kalten Wintertag. Eine leichte Brise weht durch mich hindurch und bringt das Windspiel in Bewegung. Rei ist vollkommen in sein Lied vertieft. Er sitzt mit gekreuzten Beinen auf dem Bett und trägt ein schwarzes T-Shirt und graue Sport-Shorts. Seine Haare sind vom Duschen noch nass.
Langsam schwebe ich vom Fensterbrett zum Hängesessel, der von der Decke in der Nähe von Reis Bett hängt. Dabei bewege ich mich ganz vorsichtig, um den Stuhl nicht in Bewegung zu setzen. Von hier aus kann ich genau sehen, wie seine Finger die Saiten berühren und verschiedene Akkorde greifen, und ich höre seine klare, ruhige Stimme. Der Geruch von Zitronenseife umhüllt ihn, und ihn umgibt eine ruhige, blaue Aura in der Farbe des Sommerhimmels.
Ich ziehe meine Knie an meine Brust und vergrabe meinen Kopf in den Armen. So kann ich mich besser auf die Musikkonzentrieren und achte nicht auf die Muskelstränge, die in seinen Armen spielen. Hier zusammen mit Rei fühle ich mich wie ein Schwamm, der die Energie aufsaugt, die ich so dringend brauche. Als die Musik aufhört, verharre ich reglos in derselben Position. Ich sitze einfach da und tanke auf. Keine Ahnung, wie viel Zeit mittlerweile verstrichen ist, doch plötzlich bemerke ich, dass Rei ganz still ist. Ich schaue auf und sehe nach, ob er schläft. Aber Rei sitzt immer noch mit gekreuzten Beinen auf seinem Bett, seine Gitarre liegt auf seinem Schoß und er sieht irritiert in meine Richtung. »Anna?«
9
Mein erster Reflex ist zu flüchten. Ich verstecke mich im Geäst der Weide vor Reis Fenster und höre, wie er sanft meinen Namen ruft – immer und immer wieder. Er beruhigt mich letztendlich mit der Frage: »Geht es dir gut? Ich habe ein paar Mal versucht, dich anzurufen, aber du bist nicht drangegangen.«
Ich fliege durch das offene Fenster zu ihm, und er entspannt sich, als er mich sieht.
»Da bist du ja.« Er lächelt und ich schwebe um den Hängesessel herum.
Es ist seltsam, dass er mich sieht. Normalerweise brauche ich unglaublich viel Energie, um sichtbar zu werden. Vielleicht habe ich heute Abend so viel von Reis Energie aufgesaugt, dass ich mich materialisiert habe, ohne es zu wollen.
»Schläfst du?«
Was meint er damit? Scheinbar mache ich einen verwirrten Eindruck, denn jetzt sieht er ziemlich amüsiert aus. »Das dachte ich mir. Wahrscheinlich erinnerst du dich morgen gar nicht mehr an unsere
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