Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
Olivgrün. Jetzt erwarte ich aus ihrem Mund das Wort mit den vier Buchstaben, aber sie ist so wütend, dass sie nur ein »Fffffffff … « herauspressen kann. Sie will Seths Handy in den Abgrund werfen, aber plötzlich geht alles rasend schnell.
Sie wirbelt herum und verliert auf dem glitschigen Untergrund den Halt. Ihre Augen und ihr Mund weiten sich und sie rudert mit den Armen in der Luft. Als ihre Füße ins Rutschen kommen und die Schwerkraft sie in den Abgrund reißt, packt Seth das Erste, was er von Taylor zu fassen bekommt. Mit seinem rechten Fuß fest in den Boden gedrückt, versuchter, das Gleichgewicht zu halten. An der Art, wie er seine Lippen aufeinanderpresst, kann ich erkennen, dass er sie erwischt hat. Aber das hauchdünne Top, das er in der Faust hält, ist dem Gewicht nicht gewachsen und die silbernen Knöpfe springen nacheinander von dem Oberteil ab. Als der letzte Knopf sich löst und sie wie ein Pendel über den Felsen hin und her schwingt, schreit sie wie am Spieß. Ihr Leben hängt an einem dünnen Stück ausgefranstem Stoff, das Seth in der Hand hält. Verzweifelt klammert sie sich an Seths glitschigem Arm fest. Ihre künstlichen Fingernägel hinterlassen tiefe, blutige Striemen auf seiner Haut.
»Gib mir deine andere Hand!«
Sie versucht es, aber ihr Arm scheint wie gelähmt zu sein. »Ich kann nicht!«, wimmert sie.
Seth setzt sich auf die Knie und lehnt sich zurück, um die Hebelwirkung besser auszunutzen. Er hat kein Problem damit, ihr Gewicht auszubalancieren, aber er kämpft gegen eine Schicht aus Sprühwasser und Blut an, die es ihm immer schwieriger macht, Taylor zu halten.
»Willst du sterben? Gib mir deine
Hand
!«, brüllt er.
Ihre nackten Füße rudern gegen den glitschigen Felsen und ihr Griff um Seths Handgelenk und sein Griff um ihr Top lockern sich dadurch immer mehr.
»Hör auf, mit den Füßen um dich zu treten, und gib mir deine andere Hand!«
Aber sie kann nicht aufhören. Ein wilder Instinkt hat Überhand gewonnen. Ihre Beine kämpfen unkontrollierbar um ihr Leben, versuchen verzweifelt, irgendeinen Halt zu finden. Seth greift mit der anderen Hand weiter herunter, vorsichtig, umnicht selbst das Gleichgewicht zu verlieren, aber durch die Mischung aus Wasser und Blut gleitet ihre Hand Zentimeter um Zentimeter an Seths Arm herab.
Ich wünschte, ich könnte etwas tun. Aber ohne meinen Körper kann ich allerhöchstens ganz winzige Dinge heben. Ich versuche, ihre andere Hand zu heben, sodass Seth sie packen kann, aber sie gleitet durch mich hindurch. Als ihr Griff sich löst, schreit sie gellend auf und ihre Augen weiten sich. Die Schwerkraft zieht sie in den Wasserfall hinab. Die grauenhafte Stille, die folgt, wird durch das Geräusch des Aufpralls von Taylors Kopf auf dem Felsen durchbrochen. Die bunten Farben ihres Rocks flattern fröhlich im Wind, ihre Arme fuchteln ziellos herum und ihr Körper wird zwischen den Felsen unter dem brausenden Wasserfall hin und her geworfen.
Und dann ist sie verschwunden, verschluckt von dem reißenden Fluss.
Die Zeit scheint stillzustehen. Abgesehen von einem plötzlichen kühlen Windstoß, der Seths Haare zerzaust, vom Tosen des Wassers und dem heftigen Atmen von Seth steht alles still. Die einzigen Zeugen von Taylors Unfall sind die Vögel und die Bäume.
Und ich.
Ich wünschte, ich wüsste, was die Anzeichen für einen Schock sind. Seth ist weiß wie eine Leinwand, seine Pupillen sind riesengroß und sein Schweiß riecht plötzlich wie rohe Zwiebeln. Seine rote Aura wird grau. Sieht es so aus, wenn jemand unter Schock steht?
Warum ist Rei jetzt nicht hier? Ich verfluche mich dafür, dass ich ihm ausgeredet habe herzukommen. Sicher wäre das allesnicht passiert, wenn Rei da gewesen wäre. Er hätte gewusst, was zu tun ist. Er hätte niemals zugelassen, dass Taylor so nahe am Abgrund steht. Er hätte sie hochgehoben und an einen sicheren Ort gebracht. Wenn ich Rei nicht davon abgebracht hätte herzukommen, wäre Taylor noch am Leben und Seths Handy würde in seiner Hosentasche stecken.
Seth steht zitternd auf und schaut flussabwärts. Der Strom biegt nach rechts ab und meine Sicht wird von Blättern verdeckt. Ich fühle das Ziehen in der Magengegend und weiß, dass ich zu meinem Körper zurückkehren sollte. Der Alarm muss losgegangen sein. Zum Glück habe ich ihn relativ leise eingestellt, also kann ich noch kurz bleiben und nachsehen, ob ich Taylors Körper im Fluss entdecke. Ein paar Hundert Meter flussabwärts finde ich
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