Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
Unterhaltung.«
Ich versuche, meine Überraschung zu verbergen. Woher weiß er das denn? War ich schon öfter in seinem Zimmer und habe mit ihm geredet, ohne mich danach daran zu erinnern?
Ich zucke mit den Achseln. In dieser Dimension habe ich keine Stimme. Also wird diese Unterhaltung ziemlich einseitig. Ein beruhigender Gedanke.
»Ist deine Mum zu Hause?«, fragt er, setzt sich wieder auf sein Bett und nimmt seine Gitarre in die Hand.
Ich nicke.
»Hatte sie eine gute Zeit?« Er greift ein paar Akkorde und stimmt eine Saite. Ich warte, bis er hochschaut, und dann nicke ich.
»Bist du Seth und Taylor heute zum Wasserfall gefolgt?«
Ich zögere. Was soll ich darauf antworten? Ich kann ihm nicht erklären, was passiert ist, also nicke ich nur. Er rollt mit den Augen.
»Das dachte ich mir schon. Ich habe vorhin versucht, Seth zu erreichen, aber er geht nicht ran. Ich glaube, er hat zu Hause auch keinen Festnetzanschluss mehr. Hat sie ihm sein Handy zurückgegeben?«
Hmmm, nein. Ich schüttle den Kopf und setze mein bestes Pokerface auf.
»Er muss verdammt wütend sein.«
Ja, das ist er. Ich nicke.
Rei zupft immer wieder an derselben Saite und stimmt sie, bis er genau den Sound hat, den er will. Dann schlägt er alle Saiten auf einmal an. Seine Nachttischlampe ist die einzige Lichtquelle. Seine Augen liegen im Halbschatten und sind halb von seinen schwarzen Haaren verdeckt. »Ich frage mich immer, von was du träumst, wenn du in der Nacht hier auftauchst«, sagt er, während die Musik langsam verklingt. »Aber jetzt kannst du mir das nicht erklären und morgen wirst du dich an nichts mehr erinnern.«
Er sieht auf und lächelt sein warmes, breites Lächeln. »Oder kannst du dich erinnern und willst es nur nicht sagen?«
Ich habe Rei noch nie zuvor angelogen. Vielleicht verrate ich ihm nicht alles. Manche Dinge, die seine Meinung von mir verschlechtern würden, sage ich ihm nicht. Aber wenn man Verschweigen nicht als Lügen ansieht, dann habe ich immer die Wahrheit gesagt. Außerdem hat er mir auch nicht immer alles erzählt. Dass ich in meinen Träumen meinen Körper verlasse und kleine Ausflüge ins Traumland mache, hat er mir nie gesagt. Das ärgert mich mindestens genauso wie die Tatsache, dass ich meinen Körper an Taylor verloren habe.
»Willst du dein Überraschungslied hören? Du wirst dich morgen ja sowieso an nichts mehr erinnern, also wird es immer noch eine Überraschung sein.«
Ziemlich viele Überraschungen für einen Tag. Ich begreife langsam, wie wenig ich über diese Dimension weiß, obwohl ich schon zwölf Jahre lang immer wieder meinen Körper verlasse. Wie hat Taylor es bloß geschafft, in meinen Körper zu kommen? Und warum kann ich sie nicht wieder loswerden? Wie kann es sein, dass Rei mich sehen kann? Und warum konnte er mich all die Male sehen, in denen ich im Traum in seinem Zimmer war? Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mich je jemand anders außerhalb meines Körpers gesehen hat.
Nachdem er seinen Song gespielt hat, sieht Rei mich an. Ich lächle und klatsche lautlos in die Hände. Ich liebe es, wenn er Gitarre spielt, und er weiß das. Er lächelt müde zurück. Es ist Zeit, dass ich gehe. Ich winke und zeige zum Fenster.
»Okay, ich sehe dich morgen früh«, flüstert er und stellt seine Gitarre auf den Ständer neben seinem Bett. »Träum was Schönes.«
Für einen kurzen, verrückten Moment will ich ihm alles sagen: dass Taylors Leiche im Fluss treibt, dass Seth wahrscheinlich für ihren Tod verantwortlich gemacht werden wird, dass ich nicht träume, weil ich gar nicht schlafen kann, und dass ich aus meinem eigenen Körper ausgesperrt bin, weil Taylor ihn mir geklaut hat. Ich stelle mir den Ausdruck auf seinem Gesicht vor, wenn er all das erfährt. Er wird denken, dass alles seine Schuld ist und dass dieses ganze Fiasko nicht passiert wäre, wenn er Aikido geschwänzt hätte. Ich muss meinen Körper zurückbekommen, bevor Rei herausfindet, was passiert ist.
Ich verbringe die Nacht schlaflos über meinem Bett schwebend. Während Taylor schnarcht, beobachte ich sie unruhig. Die ganze Zeit über hoffe ich, dass sie in ihren Träumen meinen Körper verlässt und ich wieder zurückkann. Gegen ein Uhr und gegen vier Uhr kommt meine Mum herein und rüttelt an Taylors Schulter, so wie es der Arzt empfohlen hat. Taylor wacht kurz auf – lange genug, um meine Mutter kurz anzuquengeln. Und dann geht Mum wieder und lässt uns beide in der Dunkelheit zurück.
Ich frage mich,
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