Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
trüben, grauen Schleier nach Hause zurück.
Heute wäre ein guter Tag, um im Bett zu bleiben und dem Regen dabei zuzuhören, wie er auf das Dach prasselt. Durch das Schlafzimmerfenster dringt das Piepsen des Weckers meiner Mutter. Sie wird einmal auf den Snooze-Knopf drücken, dann aufstehen und mich wecken, sobald sie geduscht hat. Ich glaube nicht, dass sie Taylor heute in die Schule schickt. Ich schwebe ins Wohnzimmer, weil ich absolut keine Lust mehr habe, Taylor beim Schnarchen zuzuhören. Hier ist es nicht viel heller als im Schlafzimmer. Nur eine kleine Lampe über der Küchenspüle brennt. Der Sessel ist leer, sieht aber nicht besonders einladend aus. Auf der Rückenlehne, wo sonst der Kopf von meinem Vater liegt, ist ein großer Fettfleck. Dellen bedecken die ganze Sitzfläche. Auf dem Tisch warten eine leere Flasche und ein Glas darauf, dass meine Mutter sie wegräumt und gegen eine neue Flasche und ein neues Glas austauscht.
Ich bin gespannt, wie Taylor auf meinen Vater reagiert. Ich hoffe, sie ist so angeekelt, dass sie lieber sterben will, als mit diesem Typen in einem Haus zu wohnen. Und das Schlimmste, was passieren könnte? Sie kommt ihm zickig und er kommt ihr mit seinem Handrücken – Versprechen hin oder her. Der Alarm meiner Mutter geht zum zweiten Mal los. Sie schlurft barfuß aus ihrem Zimmer, öffnet ohne zu klopfen die Tür undschaut auf den Klumpen im Bett. Sie seufzt, macht die Tür wieder zu, geht zum Telefon, ruft in der Schule an und meldet mich krank. Dann telefoniert sie mit ihrem Büro und sagt, dass sie heute von zu Hause arbeitet. Als Letztes ruft sie auf Reis Handy an und hinterlässt eine Nachricht auf seiner Mailbox. »Rei, hier ist Lydie. Warte nicht auf Anna. Sie fühlt sich nicht gut und bleibt heute zu Hause. Mach’s gut.«
Die Nachricht hinterlässt sie immer, wenn ich krank bin. Rei hat den Code schon vor langer Zeit geknackt. Die Nachricht bedeutet, dass er sich keine Sorgen machen soll oder zumindest nicht so viele Sorgen. Meine Mutter macht Kaffee, also gehe ich zurück ins Schlafzimmer. Gott! Eine Kettensäge könnte auch nicht lauter sein als mein Schnarchen! Ich ramme meinen Körper. Vielleicht hat sich über Nacht ja etwas verändert. Fehlanzeige! Ich pralle zurück und schwebe in Richtung Wand. Sie öffnet die Augen, knurrt mich an und zieht die Decke über den Kopf.
Ich schaue nach Rei, halte aber Abstand zu ihm. Wenn er mich sieht, denkt er wahrscheinlich, dass ich noch träume. Schließlich bin ich angeblich krank zu Hause. Aber es wäre mir lieber, wenn er mich nicht entdeckt. Ich bin froh, dass meine Mum ihm nicht gesagt hat, dass ich mir den Kopf angestoßen habe. Er würde nur meinen Vater dafür verantwortlich machen. In der Einfahrt zu Reis Haus steht eine verwilderte Blautanne, hinter der ich mich verstecke. So kann er mich nicht sehen, falls ich aus Versehen wieder sichtbar werden sollte. Rei kommt aus der Haustür, schaut zu meinem Haus herüber, schaltet sein Handy ein und entdeckt die Nachricht. Er sieht nicht sonderlich besorgt aus, als er sie abgehört hat. Er klappt sein Handy zu,setzt seine Kapuze auf und tritt aus dem Schutz der Veranda in den Regen.
Ob Seth im Bus sein wird? Er müsste eigentlich immer noch genug Benzin im Tank haben. Wenn ich an ihn denke, fühle ich eine seltsame Mischung aus Schuld, Angst und Neugier. Vor lauter Überraschung, Taylor in meinem Körper wiederzufinden, habe ich Seth zugegebenermaßen vollkommen vergessen. Ich frage mich, was er gerade macht.
Wahrscheinlich wird er nicht im Bus sein. Trotzdem schaue ich nach. Sein Sitzplatz ist leer. Ich sehe nach, ob er zu Hause ist. Fehlanzeige. Auf dem Schulparkplatz ist sein Auto nicht zu entdecken.
Taylors Eltern haben sicherlich mittlerweile mit ihren Freundinnen gesprochen, und mindestens eine muss von dem Treffen mit Seth am Wasserfall gewusst haben. Seth weiß, dass die Polizei ihn suchen wird. Er mag nicht sonderlich intelligent sein, aber dumm ist er nicht.
Wenn ich jemanden ein paar Mal berührt habe, kann ich mir den Rhythmus seines Energiemusters merken. Es ist wie das Schlagzeug in einem Lied. Alle Menschen hinterlassen ein leises Echo. Obwohl Seth, meiner Meinung nach, immer ziemlich verschwitzt ist, haben wir uns ein paar Mal beim High Five berührt, und wir haben einmal für circa drei Sekunden Armdrücken gemacht, bevor er meinen Arm mit voller Kraft auf den Tisch geknallt hat. Dabei hat er gejauchzt, als hätte er gerade einen Touchdown beim Super
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