Auracle - Ein Mädchen, zwei Seelen, eine Liebe (German Edition)
ob Rei jemals daran gedacht hat, dass jemand meinen Körper in Besitz nehmen könnte, während ich auf Reisen bin. Ich habe noch nie daran gedacht, aber es macht Sinn. Wenn ein leeres Schneckenhaus am Strand herumliegt, wer kann einen Einsiedlerkrebs daran hindern einzuziehen? Ich bin in dieser Dimension Seelen von offensichtlich Toten begegnet, die ziellos herumgewandert sind, aber ich habe nie mit ihnen geredet. Vielleicht wusste ich insgeheim, dass die Seele eines Toten besser nichts von meinem
lebendigen
Körper wissen sollte. Das wäre wie eine Einladung.
Taylor beim Schlafen zuzusehen, ist, wie Wasser dabei zu beobachten, wie es sich langsam erhitzt, und darauf zu warten, bis es endlich kocht. Ich muss mir wirklich etwas Besseres einfallen lassen. Da Planen noch nie meine Stärke war, überlege ich, was Rei an meiner Stelle machen würde.
Eines von Reis Lieblingszitaten ist von Sun Tzu aus
Die Kunst des Krieges
: »Kenne deinen Feind und kenne dich selbst, und du kannst Hunderte von Kämpfen gewinnen.« Das ist auch ein Prinzip des Aikido. Man muss die Gedanken des Feindes lesen und herausfinden, was ihn bewegt.
Das klingt logisch. Aber wie soll ich mich selbst kennen? Ich kann im Moment nicht mal in meinen eigenen Körper zurück. Vielleicht kann ich zumindest ein bisschen mehr über Taylor herausfinden. Ich kenne sie nur durch meine Beobachtungen in der Schule. Ich habe gehört, dass sie in einem großen Haus auf der Hauptstraße wohnt. Wie sie wohl in meinem beschissenen kleinen Haus zurechtkommt?
Was wird sie denken, wenn sie am Morgen aufwacht und meinem verkaterten Vater begegnet? Ich warte, bis die Sonne aufgeht, dann suche ich auf der Hauptstraße nach dem richtigen Haus und finde schließlich einen Briefkasten, auf dem
Gleason
steht. Formalitäten, wie zu klingeln, spare ich mir. Stattdessen gleite ich einfach durch die Wand und finde mich in einem verschwenderischen Badezimmer wieder, das größer ist als mein Schlafzimmer.
Das Mädchen hatte wirklich unglaublich viel Geld. Äpfel und Birnen kann man nun mal nicht vergleichen. Vielleicht wäre bei Taylor und mir der Vergleich zwischen Wassermelonen und Rosinen passender. Nebenan ist ein riesiges Schlafzimmer miteinem unglaublich großen, teuer aussehenden Kingsize-Bett. Dann gibt es noch ein Schlafzimmer, das die sterile Atmosphäre eines Gästezimmers hat. Ein anderes Schlafzimmer ist mit sportlichen Motiven für Jungs dekoriert. Im Bett liegt ein Teenager. Das letzte Zimmer sieht aus, wie aus einem Magazin ausgeschnitten. Die Möbel allein in diesem Raum haben sicherlich mehr als alle Möbel in meinem Haus zusammen gekostet. Taylors Computer ist brandneu und an der Wand hängt ein Flachbildschirm. Die andere Wand nimmt eine riesige Pinnwand ein, die von der Decke bis zum Boden reicht. Sie ist gespickt mit Medaillen und Dutzenden von Fotos. Ich sehe mir all die glamourösen Bilder von Taylor an. Eins steht fest: In Anna Rogans knochigem kleinen Körper gefällt es ihr ganz bestimmt nicht.
Aus Taylors Zimmer führen drei Türen heraus. Hinter der einen ist es vollkommen dunkel – wahrscheinlich versteckt sich dort ein Schrank. Eine andere Tür führt in den Flur und die dritte in ihr eigenes Badezimmer. Sie hat ein eigenes Badezimmer? Sie
hatte
ein eigenes Badezimmer … mit flauschig weichem, dreilagigem Toilettenpapier und allem was dazugehört. Ich frage mich, was ein Drei-Lagen-Mädchen wie sie an einem Ein-Lagen-Typen wie Seth fand.
Wie wird dieses Oberschicht-Mädchen mit dem Leben in der Unterschicht zurechtkommen? Vielleicht verlässt sie meinen Körper ja freiwillig, wenn sie die Kotze von meinem Vater ein paar Mal von der Klobrille putzen musste.
Vielleicht findet sie mein Leben aber auch besser als gar kein Leben.
Aus dem unteren Stock kommt der Geruch von Kaffee. Ichfolge ihm nach unten in die Küche, wo Taylors Eltern um zwei stumme Handys herumschleichen, die auf zwei großen Arbeitsplatten aus Granit liegen. In ihren Auren mischen sich Wut, Sorge und Hoffnung. Wenn ich mich jetzt materialisieren und ihnen erzählen könnte, was mit ihrer Tochter passiert ist, würde ich es tun? Oder würde ich ihnen ihren winzigen Hoffnungsschimmer ein kleines bisschen länger lassen?
Es ist eine lächerliche Frage, denn die beiden können mich ohnehin nicht sehen und Taylor ist nun einmal tot. Trotzdem …
Ich würde ihnen ihr kleines bisschen Hoffnung lassen.
10
Ich überlasse die Gleasons ihrem traurigen Schicksal und schwebe durch den
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