Aurora
ist?«
Man selbst.
»Und was noch?« Das hier. »Zeig es mir.« Das hier, Papa. Das hier.
In der verborgenen Dunkelheit ihrer Tasche begann sie mit den Fingern, wieder ihren Rosenkranz zu bearbeiten. Drücken. Klicken, Schieben. Drücken…
Sofort nach dem Gottesdienst hatte sie die Kirche verlassen und war auf den Roten Platz hinuntergeeilt. Jetzt, wo sie wußte, was sie zu tun hatte, war sie viel ruhiger.
Der Mann aus dem Westen hatte recht. Sie konnte es nicht riskieren, in ihre Wohnung zurückzukehren. Es gab niemanden, den sie gut genug kannte, um ihn fragen zu können, ob sie bei ihm unterkommen könnte. Und in einem Hotel würde sie sich anmelden müssen, und wenn Mamantow Freunde beim FSB hatte…
Damit blieb nur eine Möglichkeit.
Es war fast sechs Uhr, und um den Sockel des Lenin-Mausoleums herum begannen sich die Schatten zu sammeln und dunkler zu werden. Aber auf der anderen Straßenseite strahlten die Lichter des Kaufhauses GUM von Minute zu Minute heller – eine Reihe von gelben Fanalen, so kamen sie ihr jedenfalls in der Düsternis des frühen Oktoberabends vor.
Sie machte schnell ihre Einkäufe. Zuerst erstand sie ein knielanges schwarzes Cocktailkleid aus Rohseide. Anschließend kaufte sie sich eine schwarze Strumpfhose, kurze schwarze Handschuhe, eine schwarze Handtasche, ein Paar hochhackige schwarze Schuhe und Makeup.
Sie bezahlte alles bar in Dollar. Sie ging nie mit weniger als 1000 Dollar Bargeld aus. Von Kreditkarten hielt sie nichts: Die hinterließen zu viele Spuren. Und sie traute auch den Banken nicht: diebische Alchimisten, alle miteinander, die ihre kostbaren Dollar nahmen und sie in Rubel verwandelten, Gold in unedles Metall.
Am Kosmetiktresen wurde sie von einer der Verkäuferinnen erkannt – Hi, Sina! –, und sie mußte kehrtmachen und flüchten.
Sie kehrte in die Boutique zurück, zog ihre Jeans und ihr T- Shirt aus und zwängte sich in das neue Kleid. Das Zuziehen des Reißverschlusses war schwierig – sie mußte ihren linken Arm auf den Rücken drehen und ihre rechte Hand zwischen den Schulterblättern herunterdrücken, bis ihre Finger ihn zu fassen bekamen, aber endlich ließ er sich hochziehen, wobei er ihr ins Fleisch zwickte. Sie trat einen Schritt zurück, um sich zu betrachten – sie stemmte eine Hand auf die Hüfte, reckte das Kinn hoch, wendete dem Spiegel ihr Profil zu.
Gut.
Nun ja: gut genug.
Für das Makeup brauchte sie weitere zehn Minuten. Sie stopfte ihre alten, warmen Sachen in die GUM-Tragetasche, schlüpfte in ihre Lederjacke, kehrte auf den Roten Platz zurück und torkelte auf ihren hohen Absätzen über die großen Steine.
Sie war sehr darauf bedacht, keinen Blick auf das Lenin-Mausoleum zu werfen und auch nicht auf die Kremlmauer dahinter, zu der ihr Vater sie mitzunehmen pflegte, als sie noch ein kleines Mädchen war, damit sie an Stalins Grab vorbeigehen konnte. Statt dessen ging sie rasch durch das Tor am Nordende des Platzes, bog nach rechts ab und strebte auf das Metropol zu. Sie hätte gern in der Hotelbar etwas getrunken, aber die Wachleute ließen sie nicht durch.
»Nichts zu machen, Süße. Tut uns leid.«
Im Davongehen konnte sie sie lachen hören.
»Fängst heute wohl früh an, wie?« rief einer ihr nach.
Als sie wieder bei ihrem Wagen angekommen war, war es bereits dunkel.
Und da saß sie jetzt.
Seltsam, dachte sie zurückschauend, der Tod von Mama und von Sergo – diese beiden kleinen Tode. Seltsam. Sie glichen zwei kleinen Kieselsteinen zu Beginn eines Erdrutsches. Denn nicht lange nachdem sie dahingegangen waren, ging auch alles andere dahin – die ganze alte, vertraute Welt glitt den beiden in den nassen Abgrund hinterher.
Nicht, daß Sinaida sich sehr für Politik interessiert hätte. Die Erinnerungen an die ersten Jahre, nachdem sie Papa verlassen hatte, waren verschwommen. Sie wohnte in einer Absteige draußen in Krasnogorsk. Wurde zweimal schwanger. Hatte zwei Abtreibungen. (Und seither waren nicht viele Tage vergangen, an denen sie sich nicht gefragt hatte, wie sie wohl ausgesehen hätten, diese beiden – sie wären jetzt fast neun und sieben Jahre alt –, und ob sie mehr Lärm hätten machen können als die Leere, die sie zurückgelassen hatten.)
Trotzdem: Selbst wenn sie die Politik nicht zur Kenntnis nahm, fiel ihr doch auf, daß das Geld jetzt im Umkreis der reichen Hotels – dem Metropol, dem Kempinski und den anderen – langsam zum Vorschein kam. Und das Geld wiederum nahm sie zur Kenntnis, wie es alle
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