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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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schöner, aber sie waren es nicht, und dagegen konnte man nichts machen. In ihrer Erinnerung war er meistens betrunken, mit fliegenden Fäusten und mit Augen wie Wurmlöcher. Oder erschöpft von der Arbeit im Lokschuppen, stinkend wie ein alter Hund, zu müde, um von seinem Stuhl aufzustehen und ins Bett zu gehen, auf einer Seite der Prawda sitzend, um den Sitzbezug vor dem Öl zu schützen. Oder paranoid, die halbe Nacht auf, aus dem Fenster starrend, auf den Gängen herumwandernd wer beobachtete ihn? wer redete über ihn? –, noch mehr Seiten der Prawda auf dem Fußboden ausbreitend und immer wieder seine Makarow reinigend. (Ich bringe sie um, wenn es sein muß…)
    Aber manchmal – wenn er nicht betrunken oder erschöpft oder halb wahnsinnig war, in der sanften Stunde zwischen bloßer Betrunkenheit und völligem Hinübersein – erzählte er vom Leben in Kolyma: wie man überlebte, Gefälligkeiten und Tabakkrümel gegen Essen eintauschte, leichtere Arbeit ergatterte, lernte, einen Spitzel zu riechen – und dann nahm er sie auf den Schoß und sang ihr mit seinem schönen mingrelischen Tenor ein paar Kolyma-Lieder vor.
    Das war eine schönere Erinnerung.
    Mit fünfzig war er ihr sehr alt vorgekommen. Er war immer ein alter Mann gewesen. Mit seiner Jugend war Schluß gewesen, als Stalin starb. War das vielleicht der Grund dafür, daß er ständig von ihm redete? Er hatte sogar ein Stalin-Bild an der Wand. Erinnerst du dich an früher? Stalin mit seinem glänzenden Schnurrbart wie große schwarze Schnecken? Jedenfalls konnte sie nie ihre Freundinnen mit nach Hause bringen. Sie nie den Schweinezustand sehen lassen, in dem sie lebten. Zwei Zimmer, und sie in dem einzigen Schlafzimmer, das sie zuerst mit Sergo geteilt hatte und dann, als er zu groß und es ihm peinlich geworden war, sie anzusehen, mit Mama. Und Mama, die nur ein Klappergestell war, sogar schon bevor der Krebs sie befiel, die dann hauchdünn wurde und schließlich zu einem Nichts dahinschmolz.
    Sie war 1989 gestorben, als Sinaida achtzehn war. Und sechs Monate später waren sie wieder auf dem Trojekurowo-Friedhof und legten Sergo neben ihr in die Erde. Sinaida schloß die Augen und erinnerte sich an Papa, der bei der Beerdigung betrunken im Regen stand, an ein paar von Sergos Kameraden und an einen nervösen jungen Leutnant, selbst noch ein halbes Kind, der Sergos Vorgesetzter gewesen war und davon redete, daß Sergo für das Vaterland gestorben war, während er den fortschrittlichen Kräften Bruderhilfe leistete in der Volksrepublik…
    … oh, Scheiß drauf, was spielte das schon für eine Rolle? Der Leutnant war verschwunden, sobald er das mit Anstand tun konnte, nach ungefähr zehn Minuten nämlich. An diesem Abend hatte Sinaida ihre Sachen aus der Wohnung geholt, in der es von Gespenstern wimmelte. Er hatte versucht, sie daran zu hindern, hatte sie geschlagen, Wodka durch seine offenen, vom Regen durchweichten Poren ausgeschwitzt und mehr denn je wie ein alter Hund gestunken. Sie hatte ihn seitdem nie wiedergesehen.
    Nicht bis zum Dienstag morgen, wo er auf ihrer Schwelle aufgetaucht war und sie eine Hure genannt hatte. Und sie hatte ihn hinausgeworfen wie einen Bettler, ihn mit ein paar Schachteln Zigaretten davongeschickt, und nun war er tot, und sie würde ihn wirklich nie mehr Wiedersehen.
    Sie senkte den Kopf, bewegte die Lippen, und jeder, der sie beobachtete, hätte glauben können, daß sie betete, aber in Wirklichkeit las sie seinen Zettel und führte ein Selbstgespräch.
    »Du hast recht, ich bin ein schlechter Kerl gewesen. Alles, was Du gesagt hast, stimmt. Also glaub nicht, ich wüßte das nicht…» Ja, Papa, das warst du. Das warst du wirklich.
    »Aber jetzt kann ich vielleicht wieder einiges gutmachen…«
    Gutmachen? So nennst du das? Gutmachen? Das ist wirklich ein Witz. Sie haben dich deswegen umgebracht, und nun werden sie mich umbringen.
    »Erinnerst Du Dich an die Bude, die ich hatte, als Mama noch lebte?«
    Ja, ja, ich erinnere mich.
    »Und erinnerst du dich, was ich dir immer gesagt habe? Hörst du mir überhaupt zu, Mädchen? Regel Nummer eins? Wie lautet Regel Nummer eins?«
    Sie faltete den Zettel zusammen und sah sich um. Das war albern.
    »Rede, Mädchen!«
    Sie senkte demütig den Kopf.
    Laß dir nie anmerken, daß du Angst hast.
    »Wiederhole!«
    »Laß dir nie anmerken, daß du Angst hast.«
    »Und Regel Nummer zwei? Wie lautet Regel Nummer zwei?«
    Du hast nur einen Freund in dieser Welt.
    »Und dieser Freund

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