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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Mysteriöses Mädchen aufgespürt‹. Was halten Sie davon?«
    O’Brian schaltete das Radio aus.
    Kelso langte nach hinten auf den Rücksitz und zog einen der Schlafsäcke nach vorn. Er öffnete ihn und wickelte sich wie in eine Decke in ihn ein, dann drückte er auf einen Knopf, und seine Rückenlehne senkte sich langsam.
    Er schloß die Augen, konnte aber nicht schlafen. Bilder von Stalin drängten sich ihm in den Kopf. Stalin als alter Mann. Stalin, wie ihn Milovan Djilas nach dem Krieg erlebt hatte, wie er sich in seiner Limousine vorlehnte, während er nach Blischnjaja zurückgefahren wurde, eine kleine Lampe an dem Armaturenbrett vor sich einschaltete, um an der dort hängenden Taschenuhr feststellen zu können, wie spät es war – »und ich betrachtete seinen bereits gekrümmten Rücken und sein knochiges graues Genick mit der runzeligen Haut über dem steifen Marschallskragen…« (Djilas hielt ihn an diesem Abend für senil: Er stopfte sich Essen in den Mund, verlor beim Erzählen den Faden, machte Witze über die Juden.)
    Und Stalin, weniger als sechs Monate vor seinem Tod, bei seiner letzten, weitschweifigen Rede vor dem Zentralkomitee, wo er beschreibt, wie Lenin auf die Krisen von 1918 reagiert hatte, und ständig dasselbe Wort wiederholt (»er donnerte durch eine unvorstellbar schwierige Situation hindurch, er donnerte weiter, fürchtete nichts, donnerte einfach weiter…«), während die Delegierten fassungslos und wie gelähmt dasaßen.
    Und Stalin, nachts allein in seinem Schlafzimmer, wie er Kinderfotos aus Zeitschriften herausreißt und seine Wände damit bepflastert. Und dann Stalin, wie er von Anna Safanowa verlangt, daß sie für ihn tanzt.
    Es war seltsam, aber jedesmal, wenn Kelso versuchte, sich Anna Safanowa beim Tanzen vorzustellen, war das Gesicht, das er ihr gab, das von Sinaida Rapawa.

17. Kapitel
    Sinaida Rapawa saß im Dunkeln in ihrem geparkten Wagen in Moskau, die Tasche auf dem Schoß und die Hände in der Tasche, mit denen sie die Makarow-Pistole ihres Vaters befingerte.
    Sie hatte festgestellt, daß sie die Waffe noch immer auseinandernehmen und laden konnte, ohne hinzuschauen es schien wie das Radfahren eines von den Dingen zu sein, die man als Kind lernt und dann nie wieder vergißt. Die Feder am unteren Ende des Griffs lösen, das Magazin herausziehen, die Kugeln hineindrücken (sechs, sieben, acht, sie faßten sich kühl und glatt an), das Magazin wieder hineinschieben, klicken, schieben, dann gegen den Sicherheitsriegel drücken, um schießen zu können. Geschafft.
    Papa wäre stolz auf sie gewesen. Aber sie war bei diesem Spiel immer besser gewesen als Sergo. Was ein Witz war schließlich war er derjenige, der zum Militär mußte.
    Der Gedanke an Sergo trieb ihr wieder Tränen in die Augen, aber sie gab sich der Trauer nicht lange hin. Sie zog die Hände aus der Tasche und wischte sich mit dem Ärmel der Jacke die Augen – erst das eine, dann das andere –, dann kehrte sie zu ihrer Arbeit zurück.
    Drücken. Klicken. Schieben. Drücken.
    Sie hatte Angst. Soviel Angst, daß sie, als sie am Nachmittag vor dem Mann aus dem Westen davongelaufen war, am liebsten zu ihm zurückgeschaut hätte, als er vor dem Bürogebäude stand – am liebsten zu ihm zurückgegangen wäre –, aber wenn sie das getan hätte, dann hätte er gewußt, daß sie Angst hatte, und Angst, das hatte man ihr beigebracht, war etwas, das man nie zeigen durfte. Eine weitere der Lektionen ihres Vaters.
    Also war sie zu ihrem Wagen gelaufen und eine Weile ziellos herumgefahren, bis ihr schließlich klar wurde, daß sie in Richtung Roter Platz fuhr. Sie hatte den Wagen in der Bolschaja-Lubjanka-Straße abgestellt und war zu der kleinen weißen Kirche der Ikone der Jungfrau von Wladimir hinaufgegangen, wo gerade ein Gottesdienst stattfand.
    Die Kirche war voll. Neuerdings waren die Kirchen immer voll, im Gegensatz zur alten Zeit. Die Musik hüllte sie ein. Sie zündete eine Kerze an. Sie wußte nicht so recht, weshalb sie das tat, denn sie glaubte nicht an Gott; es gehörte zu den Dingen, die ihre Mutter immer getan hatte. »Und was hat dein Gott je für uns getan?« Die höhnische Stimme ihres Vaters. Sie dachte an ihn und an das Mädchen, das das Tagebuch geschrieben hatte, Anna Safanowa. Blöde Kuh, dachte sie. Arme blöde Kuh. Und sie zündete auch für sie eine Kerze an, auch wenn es ihr nicht viel nützen würde, wo immer sie jetzt auch war.
    Sie wünschte sich, ihre Erinnerungen an den Vater wären

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