Aurora
es Sinaida antun.«
»Wegen Sinaida würde ich mir an Ihrer Stelle nicht den Kopf zerbrechen. Außerdem hat sie das Zeug nicht mehr. Wir haben es.«
»Sie sind ein reizender Mensch, wissen Sie das? Und was ist, wenn sie ihr nicht glauben?«
»Ich habe lediglich gesagt, Sie sollen aufhören, sich wegen Mamantow Sorgen zu machen, das ist alles. Ich habe ihn ein paarmal interviewt, und ich kann Ihnen versichern, er ist eine kaputte Birne. Der Mann lebt nur in der Vergangenheit. Genau wie Sie.« Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht.
»Und Sie? Sie leben wohl nicht in der Vergangenheit?«
»Ich? Natürlich nicht. Das kann ich mir in meinem Job nicht leisten.«
»Damit keine Unklarheiten entstehen«, sagte Kelso verbindlich. In Gedanken öffnete er eine Schublade und suchte das schärfste Messer aus, das er finden konnte. »Also, all diese Gegenden, mit denen Sie in den letzten zwei Stunden angegeben haben – Afrika, Bosnien, der Mittlere Osten, Nordirland –, die Vergangenheit ist dort nicht wichtig, ist es das, was Sie behaupten? Sie glauben, die Leute leben alle in der Gegenwart? Sie sind einfach eines Morgens aufgewacht, haben gesehen, wie Sie mit Ihren vier kleinen Koffern dastanden, und haben dann beschlossen, einen Krieg zu führen? Es ist erst passiert, als Sie eingetroffen waren?›Hallo, Leute, ich bin R. J. O’Brian, und ich habe gerade den verdammten Balkan entdeckt…‹«
»Okay«, murmelte O’Brian, »es gibt keinen Grund, deswegen aggressiv zu werden.«
»Doch, den gibt es.« Kelso erwärmte sich für sein Thema.
»Das ist nämlich der große Mythos unserer Zeit. Der große Mythos des Westens. Die Arroganz unserer Zeit, personifiziert – wenn Sie mir die Bemerkung gestatten – in Ihnen: daß ein Ort, nur weil es dort ein McDonald’s gibt und MTV und man mit American Express bezahlen kann, genauso ist wie alle anderen Orte auf der Welt – er hat keine Vergangenheit mehr, es ist das Jahr Null. Aber das stimmt nicht.«
»Sie bilden sich ein, Sie wären besser als ich, oder?«
»Nein.«
»Dann eben klüger?«
»Nicht einmal das. Ein Beispiel. Sie sagen, Moskau sei eine Stadt, die Ihnen Angst macht. Weshalb? Ich werde es Ihnen sagen. Weil es in Rußland keine Tradition des Privateigentums gibt. Anfangs waren da die Arbeiter und Bauern, die nichts besaßen, und dem Adel gehörte das Land. Dann waren da die Arbeiter und Bauern, die nichts besaßen, und der Partei gehörte das Land. Jetzt gibt es immer noch Arbeiter und Bauern, die nichts besitzen, und das Land gehört, wie es immer der Fall war, demjenigen, der die größten Fäuste hat. Solange Sie das nicht begreifen, können Sie nicht einmal anfangen, Rußland zu verstehen. Sie können die Gegenwart nicht in den Griff bekommen, wenn nicht ein Teil von Ihnen in der Vergangenheit lebt.« Kelso sank in seinen Sitz zurück. »Ende der Vorlesung.«
Und eine halbe Stunde lang herrschte, während O’Brian offenbar darüber nachdachte, eine himmlische Stille.
Kurz nach neun erreichten sie die große Stadt Jaroslawl und überquerten die Wolga. Kelso goß sich und O’Brian einen Becher Kaffee ein. Etwas davon schwappte auf seinen Schoß, weil sie gerade in ein Schlagloch geraten waren. O’Brian trank beim Fahren. Sie aßen Schokolade. Die Scheinwerfer, die ihnen im Umkreis der Stadt entgegengestrahlt hatten, verringerten sich auf ein gelegentliches Aufblitzen.
»Soll ich Sie ablösen?« sagte Kelso.
O’Brian schüttelte den Kopf. »Ich kann weiterfahren. Lassen Sie uns um Mitternacht wechseln. Sie sollten zusehen, daß Sie ein bißchen Schlaf bekommen.«
Sie hörten sich im Radio die Zehn-Uhr-Nachrichten an. Die Kommunisten und die Nationalisten im Parlament, der Duma, hatten von ihrer Mehrheit Gebrauch gemacht, um die neuesten Maßnahmen des Präsidenten abzublocken: Es drohte eine weitere politische Krise, Die Aktien an der Moskauer Börse setzten ihre Talfahrt fort. Ein Geheimbericht des Innenministeriums an den Präsidenten, in dem vor der Gefahr einer bewaffneten Rebellion gewarnt wurde, war durchgesickert und in der Aurora abgedruckt worden.
Rapawa, Mamantow oder Stalins Papiere wurden nicht erwähnt.
»Sollten Sie nicht in Moskau sein und über das alles berichten?«
O’Brian schnaubte. »Darüber? ›Neue politische Krise in Rußland‹? Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Damit wird R. J. O’Brian bestimmt nicht jede volle Stunde auf Sendung sein.«
»Aber hiermit wird er es sein?«
»›Stalins heimliche Geliebte.
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