Aurora
Moskauer Mädchen zur Kenntnis nahm. Sinaida war vielleicht nicht eines der schönsten, aber sie war gut genug: hinreichend mingrelisch, um ihrem Gesicht eine fast orientalische Strenge zu verleihen, hinreichend russisch, um sich ungeachtet ihres sonst mageren Körpers mit einem Polster aus Sinnlichkeit zu umgeben.
Und da in Moskau kein Mädchen in einem Monat so viel verdienen konnte, wie ein Geschäftsmann aus dem Westen an einem Abend für eine Flasche Wein ausgab, brauchte man kein ökonomisches Genie zu sein – man brauchte nicht einer der verbissen dreinschauenden Manager zu sein, die an der Bar tranken –, um zu erkennen, daß hier gerade ein Markt im Entstehen war. Und so wurde Sinaida Rapawa, einundzwanzig Jahre alt, an einem Abend im Dezember 1992 in der Suite eines deutschen Ingenieurs aus Ludwigshafen zur Hure und schwankte nach neunzig schweißigen Minuten mit 125 Dollar, die sie in ihrem Büstenhalter versteckt hatte, den Gang entlang – mehr Geld, als sie überhaupt je zuvor zu Gesicht bekommen hatte.
Und soll ich dir noch etwas sagen, Papa, jetzt, wo wir endlich miteinander reden? Ich fühlte mich wohl. Denn schließlich tat ich nur das, was zehn Millionen andere Frauen jede Nacht tun, nur haben die nicht genügend Grips, um sich dafür bezahlen zu lassen. Das eine war dekadent. Das andere war Geschäft – Kapitalismus –, und es war alles in bester Ordnung. Es war so, wie du gesagt hast, ich hatte nur einen Freund: mich selbst.
Nach einiger Zeit verlagerte sich das Geschäft von den Hotels auf die Klubs, und das machte es einfacher. Die Klubs zahlten Schutzgelder an die Mafia, kassierten einen prozentualen Anteil von den Mädchen, und dafür hielt die Mafia die Zuhälter draußen, so daß alles einen netten und anständigen Eindruck machte und alle so tun konnten, als wäre es kein Geschäft, sondern Vergnügen.
Heute, fast sechs Jahre nach der ersten »Begegnung«, hatte Sinaida Rapawa in ihrer Wohnung – die sie übrigens gekauft und voll bezahlt hatte – fast 30.000 Dollar Bargeld. Und sie hatte Pläne. Sie studierte Jura. Sie wollte Anwältin werden. Sie wollte das Robotnik aufgeben und Moskau mit ihm und nach St. Petersburg ziehen, um dort ganz legal als juristische Hure – als Anwältin – zu arbeiten.
All das wollte sie tun, bis am Dienstag morgen Papu Rapawa aus dem Nichts aufgetaucht war, mit ihr reden wollte, sie eine Hure nannte und von der Straße den vertrauten, stinkenden Hundeatem der Vergangenheit mitbrachte.
Sie hörte sich die Zehn-Uhr-Nachrichten an, dann ließ sie den Motor an und fuhr langsam von der Bolschaja-Lubjanka-Straße fort in Richtung Nordwesten, zum Stadion der Jungpioniere, wo sie ihren Wagen auf ihrem üblichen Parkplatz direkt neben dem dunklen Spielfeld abstellte.
Es war ein kalter Abend. Der Wind peitschte ihr das dünne Kleid um die Beine. Sie umklammerte ihre Tasche, während sie auf die Lichter zustolperte. Drinnen würde sie sicherer sein.
Vor dem Robotnik hatte sich für einen Donnerstagabend eine beachtliche Menge Leute angesammelt, ein hübscher Haufen von reichen Schafen aus dem Westen, die alle darauf warteten, geschoren zu werden. Normalerweise wären ihre Augen so scharf wie eine Schere über sie hinweggeflackert, aber nicht heute abend. Sie mußte sich zum Weitergehen zwingen.
Sie ging wie üblich zum Hintereingang, und Alexej, der Barmann, ließ sie ein. Sie gab ihre Jacke an der Garderobe ab; es widerstrebte ihr, die Tasche abzugeben, aber sie händigte sie dann auch der alten Garderobiere aus: Von allen Orten in Moskau empfahl es sich auf der Tanzfläche des Robotnik am allerwenigsten, mit einer Waffe ertappt zu werden.
Wenn sie in den Klub kam, konnte sie immer so tun, als wäre sie jemand anders, und das war, abgesehen von dem Geld, die zweite gute Sache daran. (»Wie heißen Sie?« pflegten sie zu fragen, um eine Art menschlichen Kontakt herzustellen.
»Welcher Name würde Ihnen denn gefallen?« lautete die immer gleiche Antwort.) Sie konnte ihr Leben an der Tür des Robotnik zurücklassen und sich hinter dieser anderen Sinaida verstecken: sexy, beherrscht, hart. Aber nicht heute abend. Heute abend, wie sie da in der Damentoilette stand und ihr Makeup auffrischte, schien der Trick nicht zu funktionieren, und das Gesicht, das ihr aus dem Spiegel entgegenschaute, war unbestreitbar ihr eigenes: das der verletzlichen, verängstigten Sinaida Rapawa.
Sie saß über eine Stunde in einer der düsteren Nischen und hielt Ausschau. Was
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