Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
sagte er zur Windschutzscheibe. »Könnten Sie sich nicht ausnahmsweise einmal, um der Menschheit und insbesondere mir einen Gefallen zu tun, eine Socke in ihren großen, fetten Mund stopfen?«
    Nichts war zu sehen außer dem Stück Straße, das die Scheinwerfer beleuchteten. Gelegentlich tauchte auf der Gegenfahrbahn ein Wagen auf, mit eingeschaltetem Fernlicht, das ihn blendete. Nach ungefähr einer Stunde überholte er den großen Laster, der zuvor an ihnen vorbeigefahren war. Der Fahrer drückte wieder fröhlich auf die Hupe, und Kelso hupte zurück.
    »Yeah«, sagte O’Brian und drehte sich beim Klang der Hupe auf die andere Seite, »oh yeah…«
    Das Dröhnen der Reifen hatte eine hypnotisierende Wirkung, und Kelso gingen alle möglichen, unzusammenhängenden Gedanken durch den Kopf. Er fragte sich, wie sich O’Brian in einem wirklichen Krieg verhalten würde, einem, in dem er tatsächlich kämpfen mußte, anstatt nur zu filmen. Dann fragte er sich, wie er sich selbst verhalten würde. Die meisten Männer, die er kannte, hatten sich diese Frage irgendwann einmal gestellt, als machte die Tatsache, daß sie nie gekämpft hatten, sie irgendwie unvollständig – hinterließe dort, wo ein Krieg hätte sein sollen, ein Loch in ihrem Leben.
    War es möglich, daß dieses Nichtvorhandensein von Krieg – so wundervoll es war und so weiter, das verstand sich von selbst – war es möglich, daß es die Menschen tatsächlich banalisiert hatte? Weil jetzt nämlich alles irgendwie so verdammt banal war? Es war ein Zeitalter des Banalen. Die Politik war banal. Die Dinge, die den Leuten Sorgen machten, waren banal – Hypotheken und Renten und die Gefahren des Passivrauchens. Großer Gott! – er warf einen Blick auf O’Brian –, so weit sind wir also gekommen: Wir fürchten uns vor den Folgen des Passivrauchens, während unsere Eltern und unsere Großeltern sich davor fürchteten, von einer Kugel oder einer Bombe getroffen zu werden.
    Und dann begann er sich schuldig zu fühlen, denn worauf lief das alles hinaus? Daß er sich einen Krieg wünschte? Oder auch nur einen kalten Krieg? Aber es stimmt, dachte er – er vermißte den kalten Krieg. Natürlich war er in gewisser Hinsicht froh, daß er vorüber war – froh, daß die richtige Seite gewonnen hatte und so weiter –, aber während er andauerte, hatten Leute wie er wenigstens gewußt, wo sie standen, konnten mit dem Finger auf etwas zeigen und sagen: Vielleicht wissen wir nicht, woran wir glauben, aber daran glauben wir auf keinen Fall.
    Tatsache war, daß für ihn selbst seit dem Ende des kalten Krieges fast alles schiefgegangen war. Das war wirklich ein Witz. Er und Mamantow: beide Karriereopfer des Endes der UdSSR! Beide beklagten sie die Banalität der modernen Welt, beide waren sie von der Vergangenheit besessen, und beide waren sie auf der Suche nach dem Geheimnis des Genossen Stalin…
    Er legte die Stirn in Falten. Ihm war wieder eingefallen, was Mamantow zu ihm gesagt hatte.
    »Aber eines kann ich Ihnen sagen: Sie sind genauso besessen wie ich.«
    Er hatte die Bemerkung mit einem Lachen abgetan. Aber jetzt, wo er noch einmal über sie nachdachte, kam sie ihm erstaunlich klug vor – sie beunruhigte ihn sogar, weil sie so viel Scharfblick verriet –, und er ertappte sich dabei, wie er in Gedanken immer wieder zu ihr zurückkehrte, während die Temperatur sank und die Straße sich endlos in der eisigen Dunkelheit vor ihm abspulte.
    Er fuhr mehr als vier Stunden, bis seine Beine taub waren, und einmal war er sogar kurz eingenickt, und als er wieder aufschreckte, war der Toyota bereits auf die Straßenmitte zugesteuert, und die weißen Linien vor ihm im Licht der Scheinwerfer hatten wie Speere aufgeblitzt.
    Ein paar Minuten später fuhren sie an einer Straßeneinbuchtung vorbei. Kelso bremste scharf, hielt an und setzte in sie zurück. Neben ihm mühte sich O’Brian schlaftrunken ins Bewußtsein zurück.
    »Weshalb halten wir an?«
    »Der Tank ist fast leer. Und ich brauche eine Pause.« Kelso schaltete den Motor aus und massierte sein Genick. »Können wir hier nicht kurz Rast machen?«
    »Nein. Wir müssen weiter. Gießen Sie uns Kaffee ein. Ich tanke inzwischen auf.«
    Sie vollzogen dasselbe Ritual wie zuvor. O’Brian stolperte in die Kälte hinaus und wuchtete zwei Kanister aus dem Toyota, während sich Kelso für eine Zigarettenlänge die Beine vertrat. Der Wind war hier, so hoch im Norden, wesentlich schärfer. Kelso hörte, wie er zwischen Bäumen

Weitere Kostenlose Bücher