Aurora
hindurchpfiff, die er aber nicht sehen konnte. Irgendwo plätscherte leise Wasser.
Als er wieder einstieg, saß O’Brian bei eingeschalteter Innenbeleuchtung auf dem Fahrersitz, fuhr mit einem elektrischen Rasierapparat über sein großes Kinn und studierte die Karte. Es war eine unnatürliche Zeit zum Wachsein, dachte Kelso. Sie bedeutete nichts Gutes. Er assoziierte sie mit einer Notsituation, einem Todesfall, Verschwörung, Flucht; dem traurigen Davonschleichen am Ende einer Affäre, die nur eine Nacht gedauert hatte.
Keiner der beiden Männer sprach. O’Brian packte seinen Rasierapparat wieder ein und stopfte die Karte in die Türtasche neben sich.
Der zurückgekippte Sitz war warm und der Schlafsack auch. Trotz seinen Befürchtungen war Kelso binnen fünf Minuten eingeschlafen. Es war ein tiefer, traumloser Schlaf, und als er zwei Stunden später wieder aufwachte, war es, als hätten sie eine Grenze überschritten und befänden sich jetzt in einer anderen Welt.
19. Kapitel
Kurz vorher – Kelso saß immer noch am Lenkrad – hatte sich Felix Suworin niedergebeugt, um seine Frau Serafima zu küssen.
Zuerst hielt sie ihm nur die Wange hin, doch dann schien sie es sich anders überlegt zu haben. Ein warmer, weicher Arm kam unter der Bettdecke hervor, eine Hand legte sich auf seinen Hinterkopf und drückte ihn herunter. Er küßte sie auf den Mund. Sie trug Chanel. Ihr Vater hatte es vom letzten G8-Treffen mitgebracht.
»Heute nacht kommst du nicht mehr zurück«, flüsterte sie.
»Doch, ich komme zurück.«
»Nein, das tust du nicht.«
»Ich werde versuchen, dich nicht zu wecken.«
»Weck mich.«
»Schlaf gut.«
Er legte ihr einen Finger auf die Lippen und schaltete die Nachttischlampe aus. Das Licht auf dem Gang wies ihm den Weg aus dem Schlafzimmer heraus. Er konnte das Atmen der Jungen hören. Eine vergoldete Standuhr zeigte ein Uhr fünfunddreißig an. Er war zwei Stunden zu Hause gewesen. Mist. Er setzte sich auf einen goldfarbenen Stuhl neben der Tür und zog die Schuhe an, dann holte er seinen Mantel, der auf einem geschnitzten Holzbügel hing. Die ganze Einrichtung war aus einer westlichen Hochglanzzeitschrift kopiert und hatte erheblich mehr gekostet, als er sich als Major beim SWR leisten konnten; sein Schwiegervater hatte das meiste bezahlt, denn im Grunde konnten sie sich von Suworins Gehalt kaum die Zeitschrift leisten.
Auf dem Weg nach draußen warf Suworin einen Blick in den Dielenspiegel, neben dem ein Jackson-Pollock-Druck hing. Die Linien und Schatten in seinem erschöpften Gesicht schienen mit denen des Bildes zu verschmelzen. Er wurde allmählich zu alt für diese Art von Spiel, dachte er; er war kein strahlender Jüngling mehr.
Die Nachricht, daß der Delta-Flug ohne Fluke Kelso gestartet war, war kurz nach zwei Uhr an diesem Nachmittag in Jassenewo eingetroffen. Oberst Arsenjew hatte in etlichen unfeinen Ausdrücken – und zweifellos fürs Protokoll irgendwo wesentlich zurückhaltender – seiner Verwunderung darüber Ausdruck verliehen, daß Suworin nicht veranlaßt hatte, daß der Historiker zum Flughafen eskortiert wurde. Suworin hatte seine Antwort hinuntergeschluckt, die darin bestanden hätte, sich bissig zu erkundigen, wie er es anstellen solle, Mamantow ausfindig zu machen, die Miliz zurückzuhalten, das Notizbuch zu finden und einen dickköpfigen Akademiker aus dem Westen auf dem Scheremetjewo-2 auf Schritt und Tritt zu beobachten, und das alles mit nur vier Leuten.
Außerdem war dies zu jenem Zeitpunkt erheblich weniger wichtig als die Tatsache, daß die Nachrichtenagentur Interfax jetzt eine Meldung über den Tod von Papu Rapawa gebracht hatte, in der ungenannte »Miliz-Quellen« dahingehend zitiert wurden, daß der alte Mann ermordet worden war, während er versuchte, irgendwelche geheimen Papiere von Josef Stalin an einen Autor aus dem Westen zu verkaufen. Drei empörte kommunistische Abgeordnete hatten bereits versucht, die Sache in der Duma zur Sprache zu bringen. Das Büro des Präsidenten der Föderation hatte bei Arsenjew angerufen und wollte wissen, was zum Teufel da vor sich ging (eine Frage, die allem Anschein nach von Boris Nikolajewitsch selbst gestellt worden war). Auch der FSB hatte angerufen. Ein halbes Dutzend Reporter hatte sich vor Rapawas Wohnblock eingefunden, weitere belagerten die Zentrale der Miliz, die offiziell von nichts wußte und ihre Hände in Unschuld wusch.
Zum ersten Mal hatte Suworin die Vorzüge der alten Zeit erkannt, wo
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