Aurora
Nachrichten das waren, was Tass zu veröffentlichen geruhte, und alles andere Staatsgeheimnis blieb.
Er hatte einen letzten Versuch unternommen, den Anwalt des Teufels zu spielen. Bestand nicht die Gefahr, daß sie diese Sache überbewerteten? Spielten sie nicht Mamantows Spiel? Wie konnte Stalins Notizbuch etwas enthalten, das heutzutage noch irgendeine Relevanz hatte?
Arsenjew hatte gelächelt – immer ein gefährliches Zeichen.
»Wann sind Sie geboren, Felix?« hatte er freundlich gefragt.
»Achtundfünfzig? Neunundfünfzig?«
»Sechzig.«
»Sechzig. Sehen Sie, ich bin siebenunddreißig geboren. Mein Großvater – er ist erschossen worden. Zwei Onkel wurden in die Lager geschickt – sie sind nicht zurückgekommen. Mein Vater starb zu Beginn des Krieges bei irgendeiner verrückten Aktion, wo er versuchte, bei Poltawa mit einem Putzlappen und einer Flasche Benzin einen deutschen Panzer aufzuhalten, und das nur, weil Genosse Stalin gesagt hatte, daß jeder Soldat, der sich ergab, als Verräter gelten würde. Deshalb unterschätze ich den Genossen Stalin nicht.«
»Tut mir leid…«
Aber Arsenjew hatte abgewinkt. Seine Stimme hob sich, sein Gesicht war rot. »Wenn dieser Kerl ein Notizbuch in seinem Safe aufbewahrt hat, dann hatte er einen guten Grund dafür, das kann ich Ihnen versichern. Und wenn Berija es gestohlen hat, dann hatte er gleichfalls einen guten Grund, es in die Hände zu kriegen. Und wenn Mamantow es riskiert, einen alten Mann zu Tode zu foltern, dann hatte er gleichfalls einen verdammt guten Grund. Also finden Sie es, Felix Stepanowitsch, bitte. Finden Sie es.«
Und Suworin hatte getan, was in seinen Kräften stand. Jeder Dokumentensachverständige in Moskau war angerufen worden.
Die Personenbeschreibung von Kelso war, mit der erforderlichen Diskretion, an alle Milizposten in der Hauptstadt gegangen und ebenso an die GAI, die Verkehrspolizei. In theoretischer Hinsicht gab es jetzt eine »Zusammenarbeit« zwischen dem SWR und der Mordkommission der Miliz, was zumindest bedeutete, daß Suworin jetzt über ein paar mehr Leute verfügte; sie hatten mit der Miliz eine gemeinsame Linie erarbeitet, die sie den Medien präsentieren konnten. Er hatte mit einem Freund seines Schwiegervaters gesprochen – dem Besitzer der größten Zeitungskette in der Föderation – und um ein bißchen Zurückhaltung gebeten. Er hatte Netto mit dem Auftrag losgeschickt, sich das Haus in der Wspolny-Straße anzusehen. Er hatte dafür gesorgt, daß die Wohnung von Rapawas Tochter Sinaida, die verschwunden war, überwacht wurde. Als Sinaida bei Einbruch der Dunkelheit immer noch nicht aufgetaucht war, hatte er Bunin zu dem Klub geschickt, in dem sie arbeitete, den Robotnik.
Kurz nach elf war Suworin nach Hause gefahren.
Und um fünfundzwanzig Minuten nach eins war der Anruf gekommen, daß man sie gefunden hatte.
»Wo war sie?«
»Sie saß in ihrem Wagen«, sagte Bunin. »Vor dem Haus, in dem ihr Vater gewohnt hat. Wir sind ihr vom Klub aus gefolgt. Wollten sehen, ob sie sich mit jemandem trifft, aber niemand ist aufgetaucht, also haben wir sie aufgegriffen. Sieht so aus, als wäre sie gegen jemanden tätlich geworden.«
»Woher wissen Sie das?«
»Sehen Sie sich Ihre Hand an, wenn Sie oben sind.«
Sie standen in der Eingangshalle von Sinaidas Wohnblock im Stadtteil Sajause, einer ziemlich tristen Gegend im Osten von Moskau. Sie wohnte in einem Gebäude in der Nähe des Parks, das, der Sauberkeit seiner Gemeinschaftseinrichtungen nach zu urteilen, nur Eigentumswohnungen enthielt und daher recht respektabel wirkte. Suworin fragte sich, was die Nachbarn denken würden, wenn sie wüßten, daß die Frau im zweiten Stock eine Nutte war.
»Sonst noch etwas?«
»Die Wohnung ist sauber, und ihr Wagen auch«, sagte Bunin.
»Auf dem Rücksitz liegt eine Tüte mit Kleidern – Jeans, T-Shirt, ein Paar Stiefel, ein Schlüpfer. Aber sie hat da oben eine Menge Geld gehortet. Sie weiß noch nicht, daß ich es gefunden habe.«
»Wieviel?«
»Zwanzig-, vielleicht dreißigtausend Dollar. In Plastikfolie verschnürt und im Spülkasten der Toilette versteckt.«
»Wo ist es jetzt?«
»Ich habe es.«
»Geben Sie es mir.«
Bunin zögerte, dann händigte er es ihm aus: ein dickes Bündel, alles Hunderter. Er betrachtete es hungrig. Er würde vier oder fünf Jahre arbeiten müssen, um so viel zu verdienen. Suworin vermutete, daß Bunin vorgehabt hatte, etwas davon abzuzweigen. Vielleicht hatte er es ja bereits getan. Suworin
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