Aurora
Hals und kratzte heftig auf seine Flöhe ein. In der Ferne konnten sie durch den Schnee hindurch gerade noch die flache Form eines Tankers erkennen.
»Ist Ihnen bewußt«, sagte Kelso leise, während er über das Wasser hinwegschaute, »daß wir uns am Rande der Welt befinden? Daß wir uns hier zweihundert Kilometer südlich des Polarkreises befinden und zwischen uns und dem Nordpol nichts ist außer Meer und Eis? Ist Ihnen das klar?«
Er begann zu lachen.
»Was ist daran so komisch?«
»Nichts.« Kelso warf einen Blick auf O’Brian und versuchte, mit dem Lachen aufzuhören, aber es gelang ihm nicht – der Reporter wirkte so niedergeschlagen, daß er wieder losprusten mußte. Tränen trübten ihm den Blick. »Tut mir leid«, keuchte er. »Tut mir…«
»Lachen Sie ruhig weiter, haben Sie Ihren Spaß«, sagte O’Brian bitter. »Das ist genau meine Vorstellung von einem perfekten Scheißfreitag. Eine Fahrt von zwölfhundert Kilometern zu einem Nest, das aussieht wie Pittsburgh nach einem Atomangriff, um Stalins Scheißfreundin zu finden…«
Er schnaubte, dann begann er gleichfalls zu lachen. »Wissen Sie, was wir nicht getan haben?« brachte O’Brian schließlich heraus.
Kelso holte Luft und schluckte. »Was?«
»Wir waren nicht am Bahnhof und haben einen Blick auf den Strahlungsmesser geworfen. Jetzt sind wir wahrscheinlich… schon… total… verstrahlt!«
Sie brachen in brüllendes Gelächter aus, das den Toyota zum Schaukeln brachte. Der Schnee fiel, und der Husky sah jetzt mit verblüfft zur Seite geneigtem Kopf zu ihnen herüber.
O’Brian schloß den Wagen ab, und sie eilten über die tückische Fläche aus absackendem Beton in das Gebäude der Hafenmeisterei.
Kelso trug die Mappe.
Sie waren beide immer noch ein bißchen mitgenommen, und das Schild mit den Fährverbindungen nach Murmansk und Nowaja Semlja löste einen weiteren kurzen Lachanfall aus.
»Schluß damit, Mann. Wir haben hier etwas zu erledigen.«
Das Gebäude war größer, als es von außen wirkte. Im Erdgeschoß waren Läden – kleine Kioske, in denen Kleidung und Toilettenartikel verkauft wurden – und außerdem ein Cafe und ein Fahrkartenschalter. Im Kellergeschoß, unter Reihen von Leuchtstoffröhren, von denen die meisten kaputt waren, befand sich ein düsterer Markt – Buden mit Saatgut, Büchern, Raubkassetten, Schuhen, Shampoo, Würsten und riesigen, kräftigen russischen Büstenhaltern in Schwarz und Beige: Wunder der freitragenden Ingenieurskunst.
O’Brian kaufte zwei Karten, eine von der Stadt und eine von der Umgebung, dann gingen sie beide wieder hinauf zum Fahrkartenschalter, wo Kelso, nachdem er einem argwöhnischen Mann in einer schmierigen Uniform einen Dollar gereicht hatte, einen kurzen Blick ins Telefonbuch von Archangelsk werfen durfte. Das Telefonbuch war klein und hatte einen harten roten Einband. Kelso brauchte keine dreißig Sekunden, um festzustellen, daß kein Safanow und keine Safanowa darinstanden.
»Und was jetzt?« sagte O’Brian.
»Essen«, sagte Kelso.
Das Cafe war eine stoloivaja alten Stils, eine Arbeiterkantine mit Selbstbedienung. Der Fußboden war schmutzig und naß von geschmolzenem Schnee. Ein warmer Mief nach starkem Tabak hing in der Luft. An einem Tisch neben der Tür saßen zwei deutsche Matrosen und spielten Karten. Kelso holte sich eine große Schüssel mit schtschi - Kohlsuppe mit einem Klecks saurer Sahne –, Schwarzbrot und zwei hartgekochte Eier. Das alles schien auf seinen leeren Magen sofort seine Wirkung zu tun. Er fing an, sich fast euphorisch zu fühlen. Es wird alles bestens laufen, dachte er. Hier oben waren sie sicher. Niemand konnte sie finden. Und wenn sie ihre Karten richtig ausspielten, würden sie noch im Laufe des Tages wieder auf und davon sein.
Er kippte eine halbe Miniflasche Kognak in seinen Pulverkaffee, betrachtete das Fläschchen, dachte Hol’s der Henker, warum nicht? und schüttete den Rest hinein. Er zündete sich eine Zigarette an und schaute sich um. Die Leute hier wirkten noch schäbiger als in Moskau. Sie starrten die ausländischen Fremden an. Aber wenn man versuchte, ihrem Blick zu begegnen, schauten sie rasch woanders hin.
O’Brian schob seinen Teller zur Seite. »Ich habe über diese Schule nachgedacht oder was es sonst war – diese ›Maxim-Gorki-Akademie‹. Da gibt es doch bestimmt alte Unterlagen. Und dann gab es noch dieses Mädchen, mit dem Anna befreundet war – wie hieß sie doch gleich, die Häßliche?«
»Maria.«
»Maria.
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