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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Zimmerpflanzen in alten Blechdosen; ihr gegenüber hing ein großes, farbiges Poster von Gennadi Sjuganow, dem schlaffgesichtigen Kandidaten der Partei bei der letzten Präsidentschaftswahl.
    Sie musterte O’Brians Visitenkarte eingehend, drehte sie um, hielt sie gegen das Licht, als argwöhnte sie eine Fälschung. Dann griff sie zum Telefon und sprach leise ein paar Worte in den Hörer.
    Draußen, jenseits des Doppelfensters, begann der Schnee sich auf dem Hof zu türmen. Eine Uhr tickte. Neben der Tür bemerkte Kelso ein mit Bindfaden verschnürtes Zeitungsbündel mit der neuesten Ausgabe der Aurora, die darauf wartete, verteilt zu werden. Die Schlagzeile war ein Zitat aus dem Bericht des Innenministeriums an den Präsidenten: GEWALT IST UNVERMEIDLICH.
    Nach einer Weile erschien ein Mann. Er mußte an die Sechzig sein – jedenfalls wirkte er alt. Sein Kopf war zu klein für den massigen Körper, seine Züge zu klein für sein Gesicht. Sein Name sei Zarew, sagte er und streckte ihnen eine von schwarzer Tinte bekleckste Hand entgegen. Professor Zarew. Stellvertretender Erster Sekretär des Regionalkomitees.
    Kelso fragte, ob sie mit ihm reden könnten. Ja. Vielleicht. Das wäre möglich.
    Jetzt? Mit ihm allein?
    Zarew zögerte einen Moment, dann zuckte er die Achseln.
    »Also gut.«
    Er führte sie einen dunklen Korridor entlang in sein Büro. Mit den Fotos von Breschnew und Andropow schien die Zeit dort stehengeblieben zu sein. Kelso war sich ziemlich sicher, daß er im Laufe der Jahre mindestens einem Dutzend derartiger Büros einen Besuch abgestattet hatte. Parkettboden, dicke Wasserrohre, ein gußeiserner Heizkörper, ein Schreibtischkalender, ein großes grünliches Bakelittelefon, das aussah, als stammte es aus einem Sciencefiction-Film der fünfziger Jahre, der Geruch nach Bohnerwachs und abgestandener Luft – jedes Detail war ihm vertraut, bis hin zu dem Sputnik-Modell und der Uhr in der Form von Simbabwe, die irgendeine marxistische Delegation zurückgelassen hatte. Auf dem Regal hinter Zarews Kopf lagen sechs Exemplare von Mamantows Memoiren, Ich glaube weiter.
    »Wie ich sehe, haben Sie Wladimir Mamantows Buch.« Er war eine alberne Bemerkung, aber Kelso konnte ihr nicht widerstehen.
    Zarew drehte sich um, als sähe er es zum ersten Mal. »Ja. Genosse Mamantow war in Archangelsk und hat für uns Wahlpropaganda gemacht, während der Päsidentschaftswahlen. Wieso? Kennen Sie ihn?«
    »Ja. Ich kenne ihn.«
    Danach trat Schweigen ein. Kelso war sich bewußt, daß O’Brian ihn ansah und daß Zarew darauf wartete, daß er weiterredete. Ein wenig zögerlich begann er mit seiner einstudierten Rede. Zuerst einmal, sagte er, würden er und Mr. O’Brian Professor Zarew gern dafür danken, daß er sie so kurzfristig empfangen habe. Sie würden nur einen Tag in Archangelsk bleiben und wollten einen Film über die Kraft, die der Kommunistischen Partei nach wie vor innewohne, drehen. Sie besuchten verschiedene russische Städte. Es würde ihm leid tun, daß sie nicht schon früher mit ihm in Verbindung getreten waren und einen Termin mit ihm abgemacht hatten, aber sie arbeiteten schnell…
    »Und Genosse Mamantow hat Sie geschickt?« unterbrach ihn Zarew. »Genosse Mamantow hat Sie hierher geschickt?«
    »Ich kann Ihnen versichern – ohne den Genossen Mamantow wären wir nicht hier.«
    Zarew nickte. Also, das sei ein ganz hervorragendes Thema. Ein Thema, das vom Westen absichtlich ignoriert wurde. Wie viele Leute im Westen wußten zum Beispiel, daß die Kommunisten bei der Wahl zur Duma dreißig Prozent der Stimmen erhalten hatten und danach, bei der Präsidentschaftswahl 1996, sogar vierzig Prozent? Ja, sie würden bald wieder an der Macht sein. Vielleicht würden sie anfangs die Macht mit anderen teilen müssen, aber später wer weiß?
    Er wurde lebhafter.
    Wenn man nur einmal die Situation hier in Archangelsk nahm. Natürlich gab es Millionäre. Wunderbar! Aber leider gab es auch organisiertes Verbrechen, Arbeitslosigkeit, Aids, Prostitution, Drogensüchtige. Ob sich seine Besucher der Tatsache bewußt waren, daß die Lebenserwartung und die Kindersterblichkeit in Rußland inzwischen auf afrikanisches Niveau gesunken war? Was für ein Fortschritt! Was für eine Freiheit! Zarew war zwanzig Jahre lang in Archangelsk Professor für marxistische Theorie gewesen, aber erst jetzt, wo man die Marx-Denkmäler buchstäblich niederriß, war er zu einer wahren Würdigung der genialen Erkenntnis dieses Mannes gelangt: daß

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