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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Geld die ganze Welt, sowohl die menschliche als auch die natürliche, ihres wahren Wertes beraubt und…
    »Fragen Sie ihn nach dem Mädchen«, flüsterte O’Brian. »Wir haben keine Zeit für all diesen Quatsch. Fragen Sie ihn nach Anna.«
    Zarew hatte in seiner Rede innegehalten und schaute von einem zum anderen.
    »Professor Zarew«, sagte Kelso, »um unseren Film zu illustrieren, müssen wir uns Einblick in das Leben bestimmter Menschen verschaffen…«
    Das sei gut. Ja. Er verstehe. Das menschliche Element. In Archangelsk gab es viele interessante Schicksale.
    »Ja, daran zweifle ich nicht. Aber wir interessieren uns für ein ganz bestimmtes. Ein Mädchen. Inzwischen eine Frau in den Sechzigern. Sie dürfte ungefähr in Ihrem Alter sein. Ihr Mädchenname war Safanowa. Anna Michailowna Safanowa. Sie gehörte dem Komsomol an.«
    Zarew strich sich über das Ende seiner dicken Nase. Der Name, sagte er nach kurzem Nachdenken, sage ihm nichts. Das lag wohl sehr lange zurück?
    »Fast fünfzig Jahre.«
    Fünfzig Jahre? Das war unmöglich! Bitte! Er würde andere Leute ausfindig machen…
    »Aber Sie haben doch bestimmt Unterlagen?«
    … er würde ihnen Frauen zeigen, die im Großen Vaterländischen Krieg gegen die Faschisten gekämpft haben, Heldinnen der Sozialistischen Arbeit, Trägerinnen des Ordens der Roten Fahne. Großartige Frauen…
    »Fragen Sie ihn, wieviel er will«, sagte O’Brian. Jetzt machte er sich nicht einmal mehr die Mühe zu flüstern. »Damit er in seinen Akten nachschaut. Was ist sein Preis?«
    »Ihr Kollege«, sagte Zarew, »ist nicht glücklich?«
    »Mein Kollege fragt sich«, sagte Kelso taktvoll, »ob es vielleicht möglich wäre, daß Sie für uns ein paar Recherchen anstellen. Für die wir Ihnen – der Partei – natürlich gern ein Honorar zahlen würden.«
    »Das wird nicht einfach sein«, sagte Zarew.
    »Davon bin ich überzeugt«, antwortete Kelso.
    In den letzten Jahren der Sowjetunion hätten sieben Prozent der Erwachsenen der Kommunistischen Partei angehört. Wenn man diese Zahl auf Archangelsk übertrug, was ergab sich daraus? Vielleicht 20.000 Parteimitglieder in der Stadt und vielleicht noch einmal dieselbe Zahl in der Oblast. Und zu diesen Zahlen mußte man noch die Mitglieder des Komsomol und all der anderen Partei-Organisationen addieren. Und dann, wenn man all die Leute hinzunahm, die im Laufe der letzten achtzig Jahre Parteimitglieder gewesen waren – die Leute, die gestorben oder ausgetreten, erschossen, ins Gefängnis geworfen, exiliert, gesäubert worden waren – da kam man auf eine wirklich große Zahl. Eine gewaltige Zahl. Trotzdem…
    Zweihundert Dollar war die Summe, auf die sie sich einigten. Zarew bestand darauf, ihnen eine Quittung zu geben. Er verschloß das Geld in einer ramponierten Kassette, die er dann in eine Schublade einschloß. Kelso begriff mit einem eigenartigen Gefühl der Bewunderung, daß Zarew offensichtlich tatsächlich vorhatte, das Geld dem Parteifonds zukommen zu lassen. Er würde es nicht für sich selbst behalten; er war ein wahrer Gläubiger.
    Der Russe führte sie den Korridor zurück in den Empfangsbereich. Die Frau mit dem blond gefärbten Haar goß ihre Dosenpflanzen. Die Aurora verkündete immer noch, daß Gewalt unvermeidlich sei. Sjuganows breites Lächeln war nach wie vor vorhanden. Zarew holte einen Schlüssel aus einem Metallschrank, und sie folgten ihm zwei Treppen hinunter in den Keller. Eine große, bombensichere und mit Bolzen versehene Stahltür, die dick mit Schlachtschiffgrau getüncht war, schwang auf und gab den Weg frei in einen Raum voller hölzerner, mit Akten angefüllter Regale.
    Zarew setzte eine dickrandige Brille auf und begann, staubige Aktendeckel mit Dokumenten herunterzuholen. Kelso schaute sich verblüfft um. Das war kein Lagerraum, dachte er. Das war eine Katakombe. Eine Nekropole. Büsten von Lenin und von Marx und Engels bevölkerten die staubigen Borde wie perfekte Klone. Es gab Kartons voller Fotos von vergessenen Partei-Apparatschiks und stapelweise Gemälde im Stil des sozialistischen Realismus, auf denen vollbusige Bauernmädchen und Arbeiterhelden mit granitenen Muskeln dargestellt waren. Es gab Säcke voller Auszeichnungen, mit Diplomen, Mitgliedsausweisen, Broschüren, Pamphleten, Büchern. Und dann waren da die Fahnen – kleine rote Fähnchen für Kinder zum Schwenken und scharlachrote Banner, die von Leuten wie Anna Safanowa bei Paraden mitgeführt werden konnten.
    Es sah so aus, als wäre eine

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