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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Richtig. Machen wir uns auf die Sache nach ihrem Klassenjahrbuch und finden wir Maria.«
    Klassenjahrbuch? dachte Kelso. Was glaubte O’Brian denn, wer sie gewesen war? Die Königin des Abschlußballs im Jahre 1950? Aber er war zu sehr von Gutwilligkeit erfüllt, um einen Streit vom Zaun zu brechen. »Oder«, sagte er diplomatisch, » oder wir könnten es bei der hiesigen Partei versuchen. Sie war im Komsomol, entsinnen Sie sich? Durchaus möglich, daß die alten Akten noch existieren.«
    »Okay. Sie sind der Experte. Wie finden wir den Komsomol?«
    »Ganz leicht. Geben Sie mir den Stadtplan.«
    O’Brian zog die Karte aus der Innentasche seiner Jacke und rückte seinen Stuhl herum, bis er neben Kelso saß. Sie breiteten den Stadtplan aus.
    Der größte Teil von Archangelsk drängte sich auf einer ungefähr sechs Kilometer breiten Landzunge zusammen, der Rest zog sich an den beiden bebauten Ufern der Dwina entlang.
    Kelso tippte mit dem Finger auf die Karte. »Hier«, sagte er.
    »Hier ist er. Oder war er. Am Leninplatz, im größten Gebäude dort. Da sind diese Mistkerle schon immer gewesen.«
    »Und Sie glauben, die werden uns weiterhelfen?«
    »Nein. Jedenfalls nicht freiwillig. Aber wenn Sie für ein bißchen finanziellen Schmierstoff sorgen… Es ist jedenfalls einen Versuch wert.«
    Auf der Karte sah es aus wie ein Fünf-Minuten-Spaziergang.
    »Irgendwie hat es Sie endlich richtig gepackt, oder?« sagte O’Brian. Er klopfte Kelso freundschaftlich auf den Arm. »Wir sind ein gutes Team, wissen Sie das? Wir werden es denen zeigen.« Er faltete die Karte zusammen und legte fünf Rubel als Trinkgeld unter seinen Teller.
    Kelso trank seinen Kaffee aus. Der Kognak wärmte ihn innerlich. Im Grunde war O’Brian doch kein so schlechter Kerl, dachte er. Lieber er als Adelman und die übrigen Wachsfiguren, die inzwischen bestimmt sicher in New York gelandet waren.
    Geschichte konnte nicht gemacht werden, ohne Risiken einzugehen, soviel war ihm klar. Also mußte man vielleicht gelegentlich auch Risiken eingehen, um sie schreiben zu können.
    O’Brian hatte recht.
    Er würde es denen zeigen.

21. Kapitel
    Sie gingen wieder hinaus in den Schnee, an dem Toyota vorbei und an der dichtgemachten Front eines verfallenden Krankenhauses, der Matrosen-Poliklinik. Der Wind trieb den Schnee über das Wasser landeinwärts, heulte durch die stählerne Takelage der Boote an dem hölzernen Anleger und bog die dickstämmigen Bäume, die zum Schutz der Gebäude entlang der Promenade angepflanzt worden waren. Die beiden Männer hatten Mühe, sich auf den Beinen zu halten.
    Zwei Boote waren versunken, ebenso die Holzhütte am Ende des Anlegers. Bänke waren von Vandalen über das Geländer in den Fluß geworfen worden. An den Mauern waren Graffiti: ein Davidsstern, von dem Blut herabtropfte, mit einem darübergeschmierten Hakenkreuz, SS-Runen, KKK.
    Eines war sicher: Hier oben gab es bestimmt keine Boutiquen mit italienischen Schuhen.
    Sie wendeten sich landeinwärts.
    Jede russische Stadt hatte noch immer ihre Lenin-Statue. Archangelsk porträtierte den großen Führer fünfzehn Meter hoch; er erhob sich aus einem Granitblock, mit entschlossenem Gesicht, flatterndem Mantel und einer Papierrolle in der ausgestreckten Hand. Er sah aus, als wollte er ein Taxi herbeirufen. Der Platz, der noch immer seinen Namen trug, war riesig und lag unter einer glatten Schneedecke; in einer Ecke knabberten zwei angepflockte Ziegen an einem Strauch. Den Platz säumten ein großes Museum, das Hauptpostamt der Stadt und ein großes Bürogebäude, an dessen Balkon noch immer Hammer und Sichel prangten.
    Kelso steuerte darauf zu und hatte es fast erreicht, als ein sandfarbener Jeep mit einem Suchscheinwerfer auf der Haube um die Ecke bog: Soldaten des Innenministeriums, vom MWD.
    Das ernüchterte ihn. Ihm war klar, daß er jeden Augenblick angehalten und gezwungen werden konnte, sein Visum vorzuzeigen. Die bleichen Gesichter der Soldaten musterten sie. Er senkte den Kopf und stieg die Treppe hinauf. O’Brian war dicht hinter ihm, als der Jeep seine Inspektionsrunde um den Platz beendete und wieder verschwand.
    Die Kommunisten waren nicht vollständig aus dem Gebäude verdrängt worden, sie waren lediglich an die Rückseite umgezogen. Hier hatten sie ein kleines Empfangsareal eingerichtet, in dem eine beleibte Frau mittleren Alters und mit einer Mähne aus blond gefärbtem Haar regierte. Neben ihr auf der Fensterbank stand eine Reihe von kümmerlichen

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