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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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gesagt, Sie sollen das Reden mir überlassen?«
    »Nun, es hat doch funktioniert, oder etwa nicht?« O’Brian bückte sich, hob die zerknüllten Geldscheine auf, glättete sie und verstaute sie wieder in seiner Brieftasche. »Himmel, was für ein Friedhof.« Er nahm eine Lenin-Büste in die Hand. »›Ach, armer Yorrick…‹« Dann verstummte er. Er konnte sich nicht erinnern, wie das Zitat weiterging. »Hier, Professor. Nehmen Sie ein Souvenir mit.« Er warf Kelso die Büste zu, der sie auffing und schnell wieder hinstellte.
    »Lassen Sie den Quatsch«, sagte er. Seine gute Stimmung war verflogen. Er war wütend auf O’Brian, natürlich, aber es war nicht nur das. Da war noch etwas anderes etwas an der Atmosphäre hier unten. Er konnte es nicht exakt definieren.
    »Welche Laus ist Ihnen denn über die Leber gelaufen?« sagte O’Brian höhnisch.
    »Ich weiß es nicht. ›Über Gott darf man nicht spotten.‹«
    »Und über den Genossen Lenin auch nicht? Ist es das? Armer alter Fluke. Wissen Sie was? Ich glaube, die Sache fängt an, Ihnen zu entgleiten.«
    Kelso hätte am liebsten gesagt, er solle sich zum Teufel scheren, aber Zarew kam bereits mit einer Akte in der Hand auf sie zu und schaute jetzt triumphierend drein.
    Hier war ein Thema, das sich hervorragend für ihren Film eignete. Hier war eine Frau, die sich nie hatte kaufen lassen – er funkelte O’Brian an –, eine Frau, die für alle ein Vorbild war. Wawara Safanowa war 1935 in die Kommunistische Partei eingetreten und ihr treu geblieben, in guten Zeiten wie in schlechten. Da war eine halbe Seite mit Auszeichnungen, die ihr das Zentralkomitee von Archangelsk verliehen hatte. O ja, das war der unerschütterliche Geist des Sozialismus, der nie besiegt werden würde!
    Kelso lächelte ihn an. »Wann ist sie gestorben?« Ah! Das war es ja gerade. Sie war nicht gestorben.
    »Wawara Safanowa?« wiederholte Kelso. Er konnte es nicht glauben. Er wechselte einen Blick mit O’Brian. »Anna Safanowas Mutter? Immer noch am Leben?«
    Jedenfalls im letzten Monat noch am Leben. Mit fünfundachtzig noch am Leben. Hier stand es. Bitte sehr. Seit mehr als sechzig Jahren ein getreues Mitglied – sie hatte gerade erst den fälligen Parteibeitrag bezahlt.

22. Kapitel
    In Moskau war es Morgen.
    Suworin saß mit Sinaida Rapawa hinten im Wagen. Vor ihm, neben dem Fahrer, saß ein Verbindungsmann von der Miliz. Die Türen waren verriegelt. Sie fuhren nach Süden, und der Wolga war in den träge fließenden Verkehrsstrom auf der Straße nach Lytkarino eingekeilt.
    Der Mann von der Miliz murrte. Sie hätten einen anderen Wagen benutzen sollen – dann hätten sie sich mit Blaulicht und Sirene freie Fahrt erzwingen können.
    Und was glauben Sie, wer Sie sind? dachte Suworin. Der Präsident?
    Sinaida hatte dunkle Ringe unter den Augen, die durch den mangelnden Schlaf verquollen waren. Über ihrem Kleid trug sie einen Regenmantel. Sie hatte sich mit den Knien schräg zur Tür hingesetzt, wobei sie versuchte, soviel Sitzleder wie möglich zwischen sich und Suworin zu bringen. Er fragte sich, ob sie wußte, wohin sie fuhren. Er bezweifelte es. Sie schien sich irgendwie in sich selbst zurückgezogen zu haben und kaum zu wissen, was vor sich ging.
    Wo war Kelso? Was stand in dem Notizbuch? Die gleichen zwei Fragen, immer und immer wieder, zuerst in ihrer Wohnung, dann oben in dem Scheinbüro, das der SWR in der Moskauer Innenstadt unterhielt – dem Ort, an dem westliche Journalisten vom lächelnden, auf amerikanisch getrimmten Public-Relations-Offizier des Dienstes bewirtet wurden. (Da sehen Sie, meine Herren, wie demokratisch wir sind! Also, womit können wir Ihnen dienen?) Sinaida hatte keinen Kaffee bekommen und auch keine Zigaretten, nachdem sie die letzte aus ihrem Vorrat geraucht hatte. Schreiben Sie eine Aussage, Sinaida, dann zerreißen wir sie und schreiben sie noch mal, und so in einem fort, bis sich die Zeiger auf neun Uhr hingeschleppt haben und damit die Zeit gekommen ist, wo Suworin sein As ausspielen kann.
    Sie war genauso halsstarrig wie ihr Vater.
    In der alten Zeit, in der Lubjanka, hatten sie sich eines Systems bedient, das sie »das Förderband« nannten: Der oder die Verdächtige wurde zwischen drei Ermittlern herumgereicht, die sich in Achtstundenschichten ablösten. Und nach sechsunddreißig Stunden ohne Schlaf waren die meisten Leute bereit, alles zu unterschreiben und jedermann zu bezichtigen. Aber Suworin hatte keine Leute zur Verfügung und auch keine

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