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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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sechsunddreißig Stunden Zeit. Er gähnte. Er hatte das Gefühl, Sand in den Augen zu haben. Bestimmt war er nicht weniger müde als sie.
    Sein Mobiltelefon läutete.
    »Ja?«
    Es war Netto.
    »Guten Morgen, Wissari. Was haben Sie?«
    Zweierlei, sagte Netto. Erstens: das Haus in der Wspolny-Straße. Er hatte herausgefunden, daß es einer mittelgroßen Immobilienfirma gehörte, die sich Moskprop nannte und es für 15.000 Dollar im Monat vermieten wollte. Bisher keine Interessenten.
    »Bei dem Preis? Das überrascht mich nicht.«
    Zweitens: Es sah tatsächlich so aus, als wäre vor wenigen Tagen in dem Garten hinter dem Haus etwas ausgegraben worden. An einer Stelle war bis in eine Tiefe von einem Meter vierzig die Erde gelockert, und die Techniker hatten Spuren von Eisenoxid gefunden. Irgend etwas hatte dort lange Jahre vor sich hin gerostet.
    »Sonst noch etwas?«
    »Nein. Nichts über Mamantow. Er scheint sich in Luft aufgelöst zu haben. Und der Oberst ist wütend. Er fragt ständig nach Ihnen.«
    »Haben Sie ihm gesagt, wo ich bin?«
    »Nein, Major.«
    »Bestens.« Suworin legte den Hörer auf. Sinaida beobachtete ihn.
    »Wissen Sie, was ich glaube?« sagte Suworin. »Ich glaube, Ihr Herr Papa ist, kurz bevor er gestorben ist, dorthin gegangen und hat den Werkzeugkasten ausgegraben. Und außerdem glaube ich, daß er ihn Ihnen gegeben hat. Und dann haben Sie ihn höchstwahrscheinlich Kelso gegeben.«
    Es war nur eine Theorie, aber er meinte ein leichtes Zucken in ihren Augen zu sehen, bevor sie sich abwendete.
    »Letzten Endes werden wir unser Ziel doch erreichen. Und notfalls auch ohne Sie. Dann dauert es nur ein bißchen länger.«
    Er setzte sich wieder bequemer hin.
    Wo immer Kelso war, dachte er, war auch das Notizbuch. Und wo immer das Notizbuch war, würde auch Mamantow sein – wenn nicht schon jetzt, dann doch sehr bald. Also würde die Antwort auf die eine Frage – wo ist Kelso? – die Lösung für alle drei Probleme liefern.
    Er warf einen Blick auf Sinaida. Ihre Augen waren geschlossen.
    Und sie kannte sie, da war er ganz sicher. Es war so simpel wie einfach.
    Er fragte sich, ob Kelso eine Vorstellung davon hatte, wie körperlich nahe ihm Mamantow in diesem Augenblick vielleicht schon war und in welcher Gefahr er schwebte. Aber natürlich würde er keine haben. Schließlich kam er aus dem Westen. Er würde sich für immun halten.
    Der Wagen quälte sich weiter voran.
    »Das ist es«, sagte der Mann von der Miliz und deutete mit einem dicken Zeigefinger nach vorn. »Da drüben, auf der rechten Seite.«
    Das Gebäude wirkte im Regen düster, ein aus trübroten Ziegelsteinen erbautes Lagerhaus mit kleinen Fenstern hinter dem üblichen Gespinst aus Eisengittern. Neben der schäbigen Eingangstür hing kein Firmenschild.
    »Wir sollten zur Rückseite fahren«, schlug Suworin vor.
    »Dort können wir vielleicht parken.«
    Sie bogen zweimal rechts ab und fuhren durch ein offenes Holztor auf einen asphaltierten Innenhof, der in der Nässe glitzerte. In einer Ecke stand ein alter grüner Krankenwagen mit übermalten Fenstern neben einem großen schwarzen Lieferwagen. In großen Wellblechtonnen türmten sich weiße, mit Klebeband verschlossene Plastiksäcke, auf denen in roter Schrift CHIRURGISCHE ABFÄLLE stand. Ein paar waren heruntergefallen und aufgeplatzt oder, was wahrscheinlicher war, von Hunden aufgerissen worden. Blutgetränktes Verbandsmaterial sog den Regen auf.
    Die Frau saß jetzt aufrecht, schaute sich um, ahnte langsam, wo sie sich befanden. Der Mann von der Miliz stemmte seinen massigen Körper vom Beifahrersitz hoch, stieg aus und kam nach hinten, um ihre Tür zu öffnen. Sie rührte sich nicht. Suworin blieb nichts anderes übrig, als sanft ihren Arm zu ergreifen und sie zum Aussteigen zu bewegen.
    »Man hat dieses Haus entsprechend umbauen müssen. Soviel ich weiß, gibt es noch ein weiteres Lagerhaus draußen in Elektrostal. Aber so ist es nun einmal. Die Verbrechenswelle bringt es mit sich, daß sogar die Toten mit Notunterkünften vorlieb nehmen müssen. Kommen Sie, Sinaida Rapawa. Es ist nur eine Formalität, und es muß sein. Außerdem habe ich gehört, daß es oft hilft. Wir müssen unseren Schreckgespenstern immer in die Augen schauen.«
    Sie schüttelte seinen Arm ab und zog den Mantel enger um sich, und ihm wurde bewußt, daß er nervöser war als sie. Er hatte noch nie einen Toten gesehen. Man stelle sich das vor: ein Major vom früheren Ersten Hauptdirektorat des KGB, der noch nie

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