Aurora
große Weltreligion plötzlich gezwungen worden, ihre Tempel leerzuräumen und alles unter der Erde zu verbergen – ihre Schriften und Ikonen außer Sichtweite zu erhalten, in der Hoffnung auf bessere Zeiten, auf eine Wiederkunft…
Die Komsomol-Listen aus den Jahren 1950 und 1951 fehlten.
»Wie bitte?«
Kelso wirbelte herum und sah, wie Zarew über zwei Aktendeckel, in jeder Hand einer, die Stirn runzelte.
Das sei überaus seltsam, sagte Zarew. Dem würde man nachgehen müssen. Hier, bitte – er hielt ihnen die Akten zur Einsicht hin –, die Listen für das Jahr 1949 waren da, und auch die für 1952. Aber in keinem dieser Jahre war eine Anna Safanowa aufgeführt.
»1949 war sie noch zu jung«, sagte Kelso. »Sie wäre nicht aufgenommen worden.« Und Gott allein wußte, was bis 1952 mit ihr passiert sein mochte. »Wann wurden die Listen entnommen?«
»Im April 1952«, sagte Zarew stirnrunzelnd. »Hier ist eine Notiz. ›Zu übermitteln an das Archiv des Zentralkomitees in Moskau.‹«
»Ist da eine Unterschrift?«
Zarew zeigte sie ihm. »A. N. Poskrebyschew.«
»Wer ist Poskrebyschew?« sagte O’Brian.
Kelso wußte es. Und Zarew wußte es offensichtlich auch.
»General Poskrebyschew«, sagte Kelso, »war Stalins Privatsekretär.«
»Also«, sagte Zarew etwas sehr hastig, »ein Geheimnis.« Er begann, die Akten wieder in dem Regal zu verstauen. Sogar nach fünfzig Jahren und allem, was inzwischen passiert war, reichte die Unterschrift von Stalins Sekretär noch immer aus, einen Mann im richtigen Alter nervös zu machen. Seine Hände zitterten. Eine der Akten entglitt seinen Fingern und landete auf dem Boden. Blätter fielen heraus. »Bitte, machen Sie sich keine Mühe. Ich kümmere mich darum.« Aber Kelso war bereits auf den Knien und sammelte die losen Blätter ein.
»Da gibt es noch eine Sache, die Sie für uns tun könnten«, sagte er.
«Ich glaube nicht, daß…«
»Wir sind ziemlich sicher, daß die Eltern von Anna Safanowa Parteimitglieder waren.«
Das sei unmöglich, sagte Zarew. Diese Unterlagen waren vertraulich. Die durfte er ihnen nicht zeigen.
»Aber Sie könnten für uns nachsehen…« Nein. Das war ausgeschlossen.
Er streckte seine tintenfleckige Hand nach den fehlenden Seiten aus, und plötzlich war O’Brian neben ihm, bückte sich und drückte ihm weitere zweihundert Dollar in die ausgestreckte Hand.
»Es wäre für uns wirklich eine sehr große Hilfe«, sagte Kelso, wobei er mit dem Kopf O’Brian verärgert bedeutete, er solle verschwinden, »es wäre wirklich eine sehr große Hilfe für unseren Film, wenn Sie nachsehen könnten.«
Aber Zarew ignorierte ihn. Er starrte die zwei 100-Dollar-Scheine an, und das Gesicht von Benjamin Franklin, intelligent und abschätzig, blickte zu ihm auf.
»Gibt es denn überhaupt nichts«, sagte Zarew bedächtig, »von dem ihr Leute nicht glaubt, daß man es mit Geld kaufen kann?«
»Wir wollten Sie nicht beleidigen«, sagte Kelso. Er warf O’Brian einen vernichtenden Blick zu.
»Ja«, murmelte O’Brian, »wirklich nicht.«
»Sie kaufen unsere Industrie. Sie kaufen unsere Raketen. Sie versuchen, unsere Archive zu kaufen…«
Seine Finger krampften sich um die Geldscheine und knüllten sie zusammen, dann ließ er das Geld fallen.
»Behalten Sie Ihr Geld. Zum Teufel mit Ihnen und Ihrem Geld.«
Er wendete sich ab und senkte den Kopf, beschäftigte sich damit, die Akten in der richtigen Reihenfolge wieder einzuordnen. Es herrschte Stille bis auf das Rascheln trockenen Papiers.
Gut gemacht, gab Kelso O’Brian zu verstehen.
Glückwunsch…
Eine Minute verging.
Dann ergriff Zarew völlig unerwartet wieder das Wort. »Wie, sagten Sie, haben sie geheißen?« sagte er, ohne sich umzudrehen. »Die Eltern?«
»Michail«, sagte Kelso rasch, »und…« Und wie zum Teufel hatte die Mutter geheißen? Er versuchte, sich an den NKWD- Bericht zu erinnern. Wera? Waruschka? Nein, Wawara, das war es. »Michail Safanow und Wawara Safanowa.«
Zarew zögerte. Er drehte sich um und sah sie mit einem Ausdruck an, in dem sich Würde mit Verachtung mischte.
»Warten Sie hier«, sagte er. »Und rühren Sie nichts an.«
Er verschwand in einem anderen Teil des Lagerraums. Sie konnten hören, wie er herumging.
»Was soll das?« sagte O’Brian.
»Ich glaube«, sagte Kelso, »ich glaube, man nennt das Handeln aus Prinzip. Er schaut nach, ob es irgendwelche Unterlagen über Annas Eltern gibt. Und das haben wir nicht Ihnen zu verdanken. Habe ich Ihnen nicht
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