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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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zugeschlagen. Er stützte die Handflächen auf den kalten Steinboden. Dieser Fall war ihm zuwider, das wurde ihm jetzt klar, nicht nur, weil er so verdammt irrsinnig war und voller Risiken steckte, sondern weil er ihm bewußt machte, wie sehr er das eigene Land haßte; er haßte all diese ewig Gestrigen, die an den Sonntagmorgen mit ihren Plakaten von Marx und Lenin auf die Straße gingen, und die verbissenen Fanatiker wie Mamantow, die einfach nicht aufgeben wollten, die es einfach nicht kapierten, unfähig waren zu erkennen, daß die Welt sich verändert hatte.
    Die ganze Last der Vergangenheit lag so schwer auf ihm wie ein umgestürztes Denkmal.
    Er stemmte sich mühsam vom kalten Steinboden wieder auf die Beine.
    »Kommen Sie«, sagte er. Er streckte ihr die Hand entgegen.
    »Archangelsk.«
    »Wie bitte?« Er schaute auf sie herab. Sie musterte ihn vom Fußboden aus. Sie strahlte eine beängstigende Gelassenheit aus. Er bewegte sich näher an sie heran. »Was haben Sie eben gesagt?«
    Sie sagte es noch einmal.
    »Archangelsk.«
    Er hielt die Schöße seines Mantels hoch, ließ sich vorsichtig wieder auf den Boden nieder und setzte sich neben sie. Beide lehnten mit dem Rücken an der Wand wie zwei Überlebende nach einem schweren Unfall.
    Sie schaute geradeaus und redete mit seltsam monotoner Stimme. Suworin hatte sein Notizbuch aufgeschlagen, und sein Kugelschreiber arbeitete schnell, flog über das Papier, füllte eine Seite, die er dann umklappte, damit er die nächste füllen konnte. Weil es durchaus sein konnte, daß sie wieder abbrach, dachte er, so plötzlich mit dem Reden aufhörte, wie sie damit begonnen hatte…
    »Er ist nach Archangelsk gefahren«, sagte sie. »In den Norden, er und dieser Fernsehreporter.«
    »Gut, Sinaida Rapawa, lassen Sie sich Zeit. Und wann war das?«
    »Gestern nachmittag.«
    »Wann genau?«
    »Gegen vier oder fünf, ich kann mich nicht mehr genau erinnern. Ist das denn wichtig?
    »Welcher Reporter?«
    »Er heißt O’Brian. Ein Amerikaner. Er arbeitet fürs Fernsehen. Ich traue ihm nicht.«
    »Und das Notizbuch?«
    »Ist fort. Sie haben es mitgenommen«, sagte Sinaida. Es gehörte zwar ihr, aber sie hatte es nicht behalten wollen. Sie wollte es nicht anrühren. Nicht, nachdem ihr klargeworden war, worum es sich dabei handelte. Es war verflucht. Das Ding war verflucht. Es brachte jeden um, der es berührte.
    Sie hielt inne, starrte auf die Stelle, an der sich die Leiche ihres Vaters befunden hatte. Sie schlug die Hände vors Gesicht.
    Suworin wartete, dann sagte er: »Weshalb Archangelsk?«
    »Weil das der Ort ist, an dem das Mädchen zu Hause war.«
    Mädchen? Suworin hörte auf zu schreiben. Wovon redete sie? Welches Mädchen?
    »Hören Sie«, sagte er eine Weile später, sein Notizbuch hatte er schon weggesteckt, »Ihnen wird nichts passieren. Ich werde persönlich dafür sorgen, in Ordnung? Die russische Regierung garantiert es Ihnen.«
    (Wovon redete er? Die russische Regierung konnte überhaupt nichts garantieren. Die russische Regierung konnte nicht einmal garantieren, daß ihr Präsident nicht bei einem diplomatischen Empfang die Hose herunterließ, um einen seiner Fürze abzufackeln…)
    »Und jetzt werden wir folgendes tun. Hier haben Sie meine Telefonnummer, unter der Sie mich jederzeit erreichen können. Ich werde Sie jetzt von einem meiner Männer in Ihre Wohnung zurückbringen lassen, okay? Dann können Sie erst einmal ausschlafen. Und ich werde dafür sorgen, daß ein Mann vor Ihrer Wohnung und einer auf der Straße postiert wird. Damit niemand eindringen und Ihnen irgend etwas antun kann. In Ordnung?«
    Er redete hastig weiter, machte weitere Versprechen, die er nicht würde halten können. Ich sollte in die Politik gehen, dachte er. Ich bin ein Naturtalent.
    »Wir werden dafür sorgen, daß Kelso nichts passiert. Und wir werden die Leute – den Mann – finden, der Ihrem Vater diese schrecklichen Dinge angetan hat, und wir werden ihn einsperren. Hören Sie mir zu, Sinaida Rapawa?«
    Er war wieder auf den Beinen und warf einen kurzen Blick auf seine Uhr.
    »Ich muß jetzt gehen, um dafür zu sorgen, daß die Dinge in Bewegung kommen. Ich rufe Leutnant Bunin an – Sie erinnern sich doch an Bunin, den von gestern abend? –, damit er Sie nach Hause bringt.«
    Auf halbem Wege zur Tür drehte er sich noch einmal zu ihr um.
    »Ich heiße übrigens Suworin. Felix Suworin.«
    Der Mann von der Miliz und der Laborant warteten auf dem Korridor. »Lassen Sie sie allein«,

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