Aurora
einen Toten gesehen hatte! Das hier war ein Fall, bei dem er ständig neue Erfahrungen machte.
Sie suchten sich ihren Weg durch die Abfälle, passierten einen Lastenfahrstuhl und gelangten in den hinteren Teil des Lagerhauses – der Mann von der Miliz vorweg, dann Sinaida, dann Suworin. Das Gebäude war früher einmal ein Kühlhaus gewesen, für Fische, die per Lastwagen vom Schwarzen Meer gekommen waren, und man konnte, trotz des Geruchs nach Chemikalien, immer noch die Salzlake herausriechen.
Der Milizionär kannte sich aus. Er steckte den Kopf in ein Büro mit Glaswänden und wechselte ein paar scherzhafte Worte mit dem dort Sitzenden, dann erschien ein anderer Mann, der einen weißen Kittel überzog. Er hielt einen Vorhang aus dicken schwarzen Gummistreifen auf, und sie gelangten in einen langen Korridor, bereit genug für Gabelstapler, mit dicken Kühltüren an beiden Seiten.
In Amerika – Suworin hatte das in einem Video einer Krimiserie gesehen, das sich Serafima immer gern anschaute – in Amerika konnten die trauernden Hinterbliebenen ihre geliebten Angehörigen auf einem Monitor betrachten, abgeschirmt von der brutalen Realität des Todes. In Rußland war man in Sachen Tod weniger zimperlich. Aber man mußte den Behörden Gerechtigkeit widerfahren lassen – sie hatten mit ihren beschränkten Möglichkeiten ihr Bestes getan. Der Identifizierungsraum lag – wenn man von der Straße hereinkam – außer Sichtweite der Kühlanlagen. Außerdem hatte man zwei Vasen mit Plastikblumen auf einen Tisch mit einer Decke gestellt, zwischen denen ein Messingkreuz stand. Davor stand die Bahre mit der Leiche, die sich deutlich unter dem weißen Laken abzeichnete. Klein, dachte Suworin. Er hatte einen größeren Mann erwartet.
Er achtete darauf, daß er neben Sinaida stand. Der Mann von der Miliz stand neben seinem Freund, dem Laboranten des Leichenschauhauses. Suworin nickte, und der Laborant schlug den oberen Teil des Lakens zurück.
Papu Rapawas altersfleckiges Gesicht – das Haar war säuberlich gescheitelt und zurückgekämmt – starrte durch geschwärzte Augenlider zur abblätternden Decke hoch.
Der Mann von der Miliz deklamierte mit gelangweilter Stimme die formellen Worte: »Zeugin, ist dies Papu Gerassimowitsch Rapawa?«
Sinaida hatte die Hand vor dem Mund und nickte.
»Sprechen Sie bitte.«
»Er ist es.« Man konnte sie kaum hören. Und dann sagte sie etwas lauter: »Ja. Er ist es.«
Sie warf Suworin einen herausfordernden Seitenblick zu. Der Laborant deckte den Toten wieder zu.
»Warten Sie«, sagte Suworin.
Er ergriff ein Ende des Lakens und zog kräftig daran. Das dünne Nylon rutschte weg, entblößte die Leiche und landete auf dem Boden.
Stille, und dann gellte ihr Schrei durch den Raum.
»Und, ist das Papu Gerassimowitsch Rapawa? Schauen Sie ihn sich genau an, Sinaida.« Er selbst schaute nicht hin – er nahm Gott sei Dank nur etwas aus den Augenwinkeln wahr –, sein Blick war auf sie fixiert. »Schauen Sie sich an, was man mit ihm gemacht hat! Man wird mit Ihnen ähnliches machen. Und mit Ihrem Freund Kelso auch, wenn sie ihn erwischen.«
Der Laborant rief etwas. Sinaida schrie immer noch und taumelte in eine Ecke des Raums. Suworin folgte ihr – das war sein Moment, sein einziger Moment, er mußte zuschlagen. »Und nun verraten Sie mir, wo er ist. Tut mir leid, aber Sie müssen es mir sagen. Sagen Sie mir, wo er ist. Tut mir leid. Auf der Stelle.«
Sie drehte sich um, und ihr Arm schoß auf ihn zu, aber der Mann von der Miliz packte sie beim Mantel und zerrte sie zurück. »He, he«, sagte er, »lassen Sie das.« Er wirbelte sie herum und zwang sie auf die Knie.
Suworin kniete sich vor sie und nahm ihr Gesicht zwischen die Hände. »Es tut mir leid«, sagte er. Ihr Gesicht schien sich unter seinen Fingern aufzulösen, ihre Augen waren feucht, Schwärze rann ihr über die Wangen, der Mund war schwarz verschmiert. »Ganz ruhig. Es tut mir leid.«
Sie wurde still. Einen Augenblick lang glaubte er, sie wäre in Ohnmacht gefallen, aber ihre Augen waren nach wie vor offen.
Sie würde nicht zerbrechen. Das wußte er in diesem Moment. Sie war die Tochter ihres Vaters.
Nach etwa einer halben Minute gab er sie frei und ging in die Hocke, atmete schwer und hielt den Kopf gesenkt. Hinter sich hörte er, wie die Bahre hinausgerollt wurde.
»Sie sind ein Verrückter«, sagte der Laborant kopfschüttelnd.
»Total verrückt.«
Suworin gestand es mit schwach erhobenem Arm zu. Die Tür wurde
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