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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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sagte er. »Sie brauchen sich keine Sorgen um sie zu machen.« Sie schauten ihn befremdet an. Lag in ihren Blicken Verachtung, fragte er sich verwundert, oder so was wie mißtrauischer Respekt? Er war sich nicht sicher, was von beidem er verdiente, hatte aber keine Zeit, das selbst zu entscheiden. Er drehte ihnen den Rücken zu und wählte Arsenjews Nummer in Jassenewo.
    »Sergo? Ich muß mit dem Oberst sprechen… ja, es ist dringend. Und Sie müssen etwas für mich tun… Ja – sind Sie soweit? – Sie müssen mir ein Flugzeug besorgen.«

23. Kapitel
    Ihrer Parteiakte zufolge lebte Wawara Safanowa seit über sechzig Jahren unter derselben Adresse in einem Haus in der Altstadt von Archangelsk, ungefähr zehn Fahrminuten vom Flußufer entfernt, in einem aus Holz erbauten Viertel. In die Holzhäuser gelangte man über Holztreppen, die von hölzernen Gehsteigen zu ihnen hinaufführten. Das Holz war uralt, grau und verwittert; es mußte lange vor der Revolution aus den stromaufwärts liegenden Wäldern die Dwina herabgeflößt worden sein. Bei diesem Winterwetter sah das Viertel pittoresk aus, wenn man die Augen vor den Betonklötzen verschloß, die im Hintergrund aufragten. Neben einigen der Häuser war Brennholz gestapelt, und hier und dort stieg Rauch auf und verzehrte den fallenden Schnee.
    Die Straßen waren breit und leer und wurden von einem Spalier aus Silberbirken bewacht. Die Schneedecke täuschte eine ebene Oberfläche vor, aber die Straßen waren nicht befestigt. Der Toyota geriet in fast knietiefe Schlaglöcher, ruckte und holperte die breite Straße entlang, bis Kelso vorschlug, den Wagen an den Straßenrand zu fahren und zu Fuß weiterzugehen.
    Er stand vor Kälte zitternd auf den Laufplanken, während O’Brian im Kofferraum herumwühlte. Auf der anderen Straßenseite stand ein Dutzend Güterwaggons. Plötzlich wurde eine laienhaft zusammengezimmerte Tür an der Seite eines Waggons geöffnet, und eine junge Frau kam heraus, gefolgt von zwei so dick vermummten Kindern, daß sie fast wie Kugeln aussahen. Die Frau machte sich auf den Weg über das verschneite Feld, wobei die Kinder hinter ihr hertrödelten, und starrte Kelso neugierig an; dann drehte sie sich um und befahl den Kindern mit scharfem Ton, ihr zu folgen.
    O’Brian schloß den Wagen ab. Er hatte einen der Aluminiumkoffer in der Hand. Kelso hatte nach wie vor die Mappe bei sich.
    »Haben Sie das gesehen?« sagte Kelso. »In den Güterwaggons da drüben leben tatsächlich Leute. Haben Sie das gesehen?«
    O’Brian grunzte und zog sich die Kapuze über den Kopf.
    Sie stapften am Straßenrand entlang, vorbei an einer Reihe von baufälligen und geflickten Häusern, die sich ohne Ausnahme in eigentümlichen, absurden Winkeln zur Erde neigten. Wenn im Sommer der Boden auftaute, dachte Kelso, verschoben sich die Häuser offenbar mit ihm. Und dann mußten neue Bretter über die frisch entstandenen Risse genagelt werden. Einige Wände mußten Reparaturschichten haben, die noch aus der Zarenzeit stammten. Hier schien die Zeit stillzustehen. Es fiel Kelso nicht schwer, sich Anna Safanowa vorzustellen, wie sie da vor fünfzig Jahren mit einem Paar Schlittschuhen über der Schulter entlang ging, wo er und O’Brian jetzt gingen.
    Es dauerte zehn Minuten, bis sie die Straße der alten Frau fanden – es war im Grunde nur eine Gasse, die hinter ein paar Birken von der Hauptstraße abzweigte und zur Rückseite des Hauses führte. Auf dem Hof waren mehrere Tierställe: Hühner, ein Schwein, zwei Ziegen. Und das alles wurde von einem vierzehn Stockwerke hohen Plattenbau überragt, in dessen unteren Etagen ein paar gelbe Lichter zu sehen waren, was dem Ganzen im Schnee ein gespenstisches Aussehen verlieh.
    O’Brian öffnete den Koffer, holte die Videokamera heraus und begann zu filmen. Kelso schaute nervös zu.
    »Sollten wir uns nicht zuerst vergewissern, ob sie zu Hause ist? Sollten Sie sie nicht vorher um Erlaubnis bitten?«
    »Das können Sie machen. Nun gehen Sie schon.«
    Kelso warf einen Blick zum Himmel. Die Schneeflocken schienen größer zu werden – dick und weich wie Babyhände. Er spürte einen Knoten der Anspannung im Bauch, einen Knoten, der so groß wie eine Faust zu sein schien. Er bahnte sich einen Weg über den Hof, an dem widerlichen Gestank der Ziegen vorbei, und stieg das halbe Dutzend lockerer Holzstufen hoch, die zur rückseitigen Veranda hinaufführten. Auf der dritten Stufe hielt er inne. Die Tür stand ein Stück offen, und in dem

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