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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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als Hilfsschwester in der Matrosen-Poliklinik gearbeitet, nichts zu essen in der Stadt, kaum Treibstoff, die Verdunkelung, die Bomben und eine Tochter, die sie allein aufziehen mußte.
    Es dauerte ziemlich lange, das alles aus ihr herauszuholen. Immer wieder stieß sie mit dem Stock auf, schweifte ab und wiederholte sich. Kelso war sich ständig der Tatsache bewußt, daß O’Brian neben ihm immer ungeduldiger wurde, während sich der Schnee draußen türmte und die Geräusche der Außenwelt dämpfte. Aber er ließ sie reden. Er versetzte O’Brian sogar zweimal einen Tritt ans Schienbein, um ihn zur Geduld zu ermahnen. Er wollte, daß sie von sich aus auf das zu sprechen kam, worum es ihnen in Wirklichkeit ging.
    Fluke Kelso war ein Experte in solchen Dingen. Nicht anders hatte schließlich die ganze Geschichte begonnen.
    Er nippte am inzwischen kalten Tee.
    »Sie hatten also eine Tochter, Genossin Safanowa?« sagte er.
    »Das ist interessant. Erzählen Sie uns von Ihrer Tochter.« Wawara stocherte mit ihrem Stock auf dem Linoleumboden herum. Ihre Mundwinkel zogen sich nach unten.
    Das sei für die Geschichte der Regionalpartei von Archangelsk nicht von Bedeutung.
    »Aber für Sie war es von Bedeutung?«
    Ja, natürlich sei es für sie von Bedeutung. Schließlich war sie die Mutter des Kindes. Aber was war schon ein Kind im Vergleich zu den Mächten der Geschichte? Das war eine Sache der Subjektivität und der Objektivität. Eine Sache des Wer und Wem. Und etlicher weiterer Parteisprüche, an die sie sich nicht mehr so richtig erinnern konnte, von denen sie aber wußte, daß sie wahr waren, und die ihr damals ein Trost gewesen waren.
    Sie saß zusammengekrümmt auf ihrem Stuhl.
    Kelso griff nach der Mappe.
    »Ich weiß einiges von dem, was mit Ihrer Tochter passiert ist«, sagte er. »Wir haben ein Notizbuch gefunden, ein Tagebuch, das Anna geführt hat. Sie hieß sie doch so? Anna? Darf ich es Ihnen zeigen?«
    Ihre Augen folgten den Bewegungen seiner Hände, als er daranging, die Riemen zu lösen.
    Ihre Hände waren altersfleckig, genau wie das Tagebuch, aber sie zitterten nicht, als sie es aufschlug. Als sie das Foto von Anna sah, berührte sie es zaghaft, dann legte sie die Fingerknöchel an den Mund und saugte an ihnen. Sie hob das Tagebuch langsam in Gesichtshöhe und hielt es dicht vor das gesunde Auge.
    »Ich sollte das filmen«, flüsterte O’Brian.
    »Wagen Sie nicht, sich von der Stelle zu rühren«, zischte Kelso.
    Er konnte nicht sehen, was die Frau für eine Miene machte, aber er konnte ihr heftiges Atmen hören, und wieder hatte er das eigenartige Gefühl, daß sie auf sie gewartet hatte – vielleicht seit Jahren.
    »Wo haben Sie das her?« sagte sie schließlich.
    »Es wurde ausgegraben. In einem Garten in Moskau. Zusammen mit einigen anderen Papieren, die Stalin gehörten.«
    Sie ließ das Notizbuch sinken. Ihre Augen waren trocken. Sie klappte es zu und streckte es ihm entgegen.
    »Nein. Lesen Sie es«, sagte er. »Bitte. Es stammt von ihr.« Aber sie schüttelte den Kopf. Sie wolle es nicht lesen.
    »Aber das ist doch ihre Schrift?«
    »Ja, es ist ihre Schrift. Nehmen Sie es zurück.«
    Sie schwenkte das Notizbuch vor ihm und gab erst Ruhe, als er es wieder in der Mappe verstaut hatte. Dann lehnte sie sich zurück, beugte sich leicht nach rechts, hielt sich mit einer Hand das gesunde Auge zu und stieß immer wieder mit ihrem Stock auf den Boden.
    Anna, sagte sie eine Weile später. Nun ja. Anna. Wo sollte sie anfangen?
    Um die Wahrheit zu sagen, sie war mit Anna schon schwanger gewesen, als sie heiratete. Aber damals machten sich die Leute um solche Dinge keine Gedanken – die Partei hatte die Priester ausgeschaltet, Gott sei Dank.
    Sie war achtzehn. Michail Safanow war fünf Jahre älter – ein Metallurge auf der Werft und Mitglied des Fabrikkomitees der Partei.
    Ein gutaussehender Mann. Ihre Tochter geriet ganz nach ihm. O ja, Anna war ein hübsches Ding. Das war ihre Tragödie.
    »Tragödie?«
    Und außerdem sehr intelligent. Und im Begriff, eine gute Jungkommunistin zu werden. Sie folgte ihren Eltern in die Partei. Sie hatte bei den Pionieren gearbeitet. Sie war im Komsomol: In ihrer Uniform sah sie aus, als wäre sie von einem Plakat herabgestiegen. Und zwar so sehr, daß sie für die Komsomol-Delegation von Archangelsk auserwählt worden war, die an der Parade auf dem Roten Platz teilnehmen sollte – oh, das war eine große Ehre gewesen –, auserwählt worden, am 1. Mai 1951 unter den

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