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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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mit einer diskreten Bestandsaufnahme des Zimmers. Auf dem Fußboden: ein großes Quadrat aus grauem Linoleum. Auf dem Linoleum: ein Tisch, ein Stuhl und ein mit einer Wolldecke abgedecktes Bett. Auf dem Tisch: eine Brille, mehrere Gläser mit Tabletten und ein Exemplar der Nord-Ausgabe der Prawda, auf der dritten Seite aufgeschlagen. An den Wänden: nichts, außer in einer Ecke, wo eine flackernde rote Kerze die Düsternis aufhellte und ein Bild von W. I. Lenin in einem Holzrahmen beleuchtete. Daneben hingen zwei Medaillen für Sozialistische Arbeit und eine Urkunde, die ihr anläßlich ihrer fünfzigjährigen Parteizugehörigkeit im Jahre 1984 überreicht worden war: zu ihrem sechzigjährigen Jubiläum hatte man sich derartige Extravaganzen vermutlich nicht mehr leisten können. Die Knochengerüst des Kommunismus war zusammen mit dem von Wawara Safanowa marode geworden.
    Die beiden Männer saßen verlegen auf dem Bett und tranken den Tee. Er hatte einen eigenartigen Kräutergeschmack, nicht unangenehm – irgend etwas, das nach Wald schmeckte, Preiselbeeren vielleicht. Die Tatsache, daß zwei Ausländer mit einer japanischen Videokamera auf ihrem Hof auftauchten und behaupteten, einen Film über die Kommunistische Partei von Archangelsk zu drehen, schien sie überhaupt nicht zu verblüffen. Es war, als hätte sie sie erwartet. Kelso vermutete, daß die Frau inzwischen wahrscheinlich gar nichts mehr verblüffen konnte. Sie begegnete allen Dingen mit der resignierten Gleichgültigkeit hohen Alters. Gebäude und Imperien wuchsen empor und stürzten ein. Es schneite. Dann schneite es nicht mehr. Leute kamen und gingen. Eines Tages würde der Tod zu ihr kommen, und auch das würde sie nicht verblüffen, und es wäre ihr egal – jedenfalls, solange er den Fuß auf die richtige Stelle setzte. »Nein, nicht dahin. Dorthin…«
    Ja, sie erinnere sich an die Vergangenheit, sagte sie und setzte sich etwas bequemer hin. Niemand in Archangelsk könnte sich besser an die Vergangenheit erinnern als sie. Sie erinnere sich an alles.
    Sie erinnere sich, wie die Roten 1917 auf den Straßen erschienen waren und ihr Onkel sie hoch in die Luft gestemmt und sie geküßt und zu ihr gesagt hatte, daß der Zar weg sei und nun das Paradies kommen würde. Sie erinnere sich, wie ihr Onkel und ihr Vater sich im Wald versteckt hatten, als 1918 die Engländer kamen, um die Revolution aufzuhalten – ein großes, graues Schlachtschiff, das in der Dwina gelegen hatte, und mickerige kleine Engländer, die an Land herumwimmelten. Sie hatte unter dem Donnern der Geschütze gespielt. Und dann erinnere sie sich, daß sie eines frühes Morgens zum Hafen hinuntergegangen war, und das Schiff war verschwunden. Und am gleichen Nachmittag war ihr Onkel zurückgekehrt – aber nicht ihr Vater: Ihr Vater war von den Weißen gefangengenommen worden und nie mehr zurückgekehrt.
    An all das erinnere sie sich. Und die Kulaken?
    Ja, sie erinnere sich an die Kulaken. Sie war damals siebzehn. Sie kamen am Bahnhof an, Tausende, in ihrer seltsamen Nationaltracht. Ukrainer – sie hatte noch nie so viele Menschen auf einmal gesehen – voller Geschwüre, und ihre ganze Habe in einem Bündel verschnürt. Sie wurden in die Kirchen eingesperrt, und niemand von den Leuten aus der Stadt durfte mit ihnen reden. Nicht, daß sie das gewollt hätten. Die Kulaken waren verseucht, alle wußten das.
    Ihre Geschwüre waren ansteckend?
    Nein. Die Kulaken waren ansteckend. Ihre Seelen waren verseucht. Sie trugen die Sporen der Konterrevolution in sich. Blutsauger, Spinnen, Vampire: So hatte Lenin sie genannt.
    Und was ist mit den Kulaken passiert?
    Es war wie bei dem englischen Schlachtschiff. Man ging eines Abends zu Bett, und da waren sie noch da, und am nächsten Morgen stand man auf, und sie waren verschwunden. Danach wurden sämtliche Kirchen geschlossen. Aber jetzt waren die Kirchen wieder geöffnet – das habe sie mit eigenen Augen gesehen. Die Kulaken waren zurückgekehrt. Sie waren überall. Es war eine Tragödie.
    Und der Große Vaterländische Krieg, auch an den erinnere sie sich – die Schiffe der Alliierten, die draußen an der Flußmündung vor Anker lagen, und auf den Docks wurde unter den heroischen Anweisungen der Partei Tag und Nacht gearbeitet, und die faschistischen Flugzeuge warfen Brandbomben auf die hölzerne Altstadt und brannten sie nieder, brannten sie fast gänzlich nieder. Das war die schlimmste Zeit – ihr Mann fort, an der Front, und sie selbst hatte

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