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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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schmalen Spalt konnte er eine alte Frau sehen, die sich, mit beiden Händen auf einen Stock gestützt, vorbeugte und ihn musterte.
    »Wawara Safanowa?« sagte er.
    Zuerst reagierte sie nicht. Dann murmelte sie: »Wer will etwas von ihr?«
    Er nahm das als Aufforderung, die restlichen Stufen hinaufzusteigen. Er war kein großer Mann, aber als er die baufällige Veranda erreicht hatte, ragte er turmhoch neben der Frau auf. Jetzt konnte er sehen, daß sie an Osteoporose litt. Die Oberkanten ihrer Schultern befanden sich auf gleicher Höhe mit den Ohren, was ihr ein argwöhnisches Aussehen verlieh.
    Er zog seine Kapuze vom Kopf und brachte zum zweiten Mal an diesem Morgen seine sorgfältig ersonnene Lüge vor – daß sie in der Stadt wären, um einen Film über die Kommunisten zu drehen, daß sie nach Leuten mit interessanten Erinnerungen suchten: Sie hätten ihren Namen und ihre Adresse von der örtlichen Parteizentrale erhalten und dabei versuchte er die ganze Zeit, diese verkrüppelte Gestalt mit der Mutterfigur in Einklang zu bringen, die das Mädchen in seinem Tagebuch erwähnt hatte.
    »Mama ist so energisch wie immer… Mama bringt mich zum Bahnhof… Ich küsse ihre lieben Wangen…«
    Sie hatte die Tür noch ein Stückchen weiter geöffnet, um einen besseren Blick auf ihn zu haben, und nun konnte er mehr von ihr sehen. Abgesehen von ihrem Umhängetuch trug sie ausschließlich Männerkleidung – alte Sachen, vielleicht die ihres toten Ehemannes –, und dazu dicke Männersocken und Stiefel. Ihr Gesicht war immer noch ansehnlich. Durchaus möglich, daß sie einst eine Schönheit gewesen war – die Beweise waren vorhanden, in den Konturen des Kinns und der Wangenknochen, im Funkeln des gesunden, blaugrünen Auges; das andere hatte der graue Star milchig werden lassen. Es war nicht sonderlich schwierig, sie sich als junge Kommunistin in den dreißiger Jahren vorzustellen, eine Pionierin beim Bau einer neuen Gesellschaft, eine Heldin des Sozialismus, eine von denen, welche die Herzen von Shaw oder Wells erwärmt hätte. Er zweifelte nicht daran, daß sie Stalin angebetet hatte.
    »Und ja, Mama, es ist ein bescheidenes Haus. Nur zwei Stockwerke. Dein gutes Bolschewistenherz würde über seine Schlichtheit jubeln…«
    »… und wenn es möglich wäre«, schloß er, »daß wir ein paar Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen dürfen, wären wir Ihnen sehr dankbar.«
    Er beförderte die Mappe verlegen von einer Hand in die andere. Er war sich des Schnees bewußt, der sich als kalter Klumpen in seiner zurückgeschlagenen Kapuze ansammelte, des Wassers, das ihm vom Kopf heruntertröpfelte, und O’Brians am unteren Ende der Treppe, der die ganze Szene filmte.
    O Gott, wirf uns hinaus, dachte er plötzlich. Sag uns, wir sollen uns zum Teufel scheren mitsamt unseren Lügen. Du mußt doch wissen, weshalb wir hier sind.
    Aber sie schlurfte lediglich in das Zimmer zurück und ließ die Tür hinter sich weit offen.
    Kelso trat zuerst ein und nach ihm O’Brian, der den Kopf einziehen mußte, um durch den niedrigen Eingang zu gelangen. Es war dunkel. Auf dem einzigen Fenster lag eine dicke Schicht Schnee.
    Wenn sie Tee wollten, sagte sie, nachdem sie sich mühsam auf einem Holzstuhl niedergelassen hatte, dann würden sie ihn selber zubereiten müssen.
    »Tee?« sagte Kelso leise zu O’Brian. »Sie bietet uns Tee an. Ich finde, wir sollten annehmen. Allerdings müßten wir ihn selbst zubereiten«
    »Gern. Ich mache ihn.«
    Sie gab einen Strom gereizter Instruktionen von sich. Die Stimme, die aus dem verkrüppelten Körper kam, war unvermutet tief und maskulin.
    »Nehmen Sie das Wasser aus dem Eimer… nein, nicht aus dem, dem schwarzen… nehmen Sie die Kelle dort… nein, nein, nein« – sie stieß ihren Stock auf den Boden –, »nicht so viel, so viel. Und nun stellen Sie den Kessel auf den Herd. Und Sie können gleich noch etwas Holz aufs Feuer legen, wenn Sie gerade dabei sind.« Zwei weitere Stöße mit dem Stock. »Holz? Feuer?«
    O’Brian warf Kelso einen hilflosen Blick zu. Er brauchte eine Übersetzung.
    »Sie möchte, daß Sie noch etwas Holz aufs Feuer legen.«
    »Tee in der Dose dort. Nein. Nein. Ja. Dieser Dose. Ja. Gut.« Kelso vermochte nichts von der ganzen Situation in den Griff zu bekommen – die Stadt, sie, dieses Haus, das Tempo, im dem alles zu passieren schien. Es kam ihm vor wie ein Traum. Er fand, daß er sich ein paar Notizen machen müßte, also zog er seinen Notizblock aus der Tasche und begann

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