Aurora
Augen des Woschd höchstpersönlich vorbeizumarschieren.
Hinterher war Annas Foto im Ogonjok gewesen, und Fragen waren gestellt worden. Damit hatte es angefangen. Von da an war nichts mehr so, wie es einmal gewesen war.
In der Woche darauf waren einige Genossen vom Zentralkomitee in Moskau gekommen und hatten angefangen, sich nach ihr zu erkundigen. Und nach den Safanows.
Und sobald sich das herumgesprochen hatte, hatten einige ihrer Nachbarn sie gemieden. Der Erzfeind Trotzki war zwar endlich tot, aber seine Spione und Saboteure waren es vielleicht nicht. Waren die Safanows vielleicht Volksfeinde oder Abweichler?
Aber natürlich hätte nichts weiter von der Wahrheit entfernt sein können.
Eines Nachmittags war Michail früher als üblich von der Werft gekommen, in Begleitung eines Genossen aus Moskau – Genosse Mechlis; den Namen würde sie nie vergessen –, und es war dieser Genosse gewesen, der ihnen die gute Nachricht überbracht hatte. Die Safanows seien auf Herz und Nieren überprüft worden, und dabei habe sich herausgestellt, daß sie gute Kommunisten seien. Ihre Tochter mache ihnen ganz besondere Ehre. Und zwar so viel, daß sie für spezielle Parteiarbeit in Moskau auserwählt worden sei, wo sie den höchsten Staatsorganen dienen solle. Als Hausmädchen, aber dennoch: Die Arbeit erfordere Intelligenz und Verschwiegenheit, und hinterher könne das Mädchen mit einer guten Beurteilung in seiner Akte seine Ausbildung fortsetzen.
Anna – also, sobald Anna das erfahren hatte, gab es für sie kein Halten mehr. Und Wawara selbst war auch dafür. Nur Michail hatte sich dagegen gesträubt. Irgend etwas war mit Michail passiert. Es tue weh, das sagen zu müssen. Während des Krieges. Er hatte nie darüber geredet, außer einmal, als Anna voller Bewunderung von der Genialität des Genossen Stalin gesprochen hatte. Michail sagte, er habe an der Front Unmengen von Kameraden sterben gesehen: Ob sie ihm vielleicht sagen konnte, warum so viele Millionen hatten sterben müssen, wenn Genosse Stalin ein solches Genie war?
Sie hatte ihn gezwungen, von genau diesem Tisch hier aufzustehen (sie hieb mit der Hand darauf) und in den Garten hinauszugehen, weil er so unvernünftig war. Nein. Er war nicht mehr der Mann, der er vor dem Krieg gewesen war. Er wollte nicht einmal zum Bahnhof mitkommen, um seine Tochter zu verabschieden.
Sie verstummte.
»Und Sie haben sie nie wiedergesehen?« sagte Kelso leise.
O doch, sagte Wawara Safanowa und schien von der Frage überrascht. Sie hatten sie wiedergesehen.
Sie deutete mit ihren Händen eine Rundung des Bauches an. Sie hatten sie wiedergesehen, als sie nach Hause zurückkehrte, um ihr Kind zur Welt zu bringen.
Stille.
O’Brian hustete und lehnte sich vor, den Kopf gesenkt, die Ellenbogen auf den Knien aufgestützt und die Hände fest ineinander verschränkt. »Hat sie gerade gesagt, was ich glaube, verstanden zu haben?«
Kelso ignorierte ihn. Es kostet ihn große Mühe, seine Stimme gleichgültig klingen zu lassen.
»Und wann war das?«
Wawara dachte eine Weile nach, wobei sie mit ihrem Stock gegen ihren Stiefel klopfte.
Im Frühjahr 1952, sagte sie schließlich. Genau. Sie stieg im März 1952 aus dem Zug, es fing gerade an, ein bißchen zu tauen. Sie hatten keinerlei Ankündigung erhalten, sie war einfach aufgetaucht, ohne irgendeine Erklärung. Nicht, daß sie etwas hätte erklären müssen. Man brauchte sie nur anzusehen. Sie war im siebten Monat.
»Und der Vater…? Hat sie gesagt…?« Nein.
Ein heftiges Kopfschütteln.
Aber du konntest es dir bestimmt denken, dachte Kelso.
Nein, sie hatte nichts über den Vater gesagt, und auch nichts darüber, was in Moskau passiert sei, und nach einer Weile hörten sie auf, ihr Fragen zu stellen. Sie saß nur in der Ecke und wartete darauf, daß ihre Zeit kam. Sie war sehr schweigsam, dieses veränderte Mädchen, kein Vergleich mit ihrer alten Anna. Sie wollte weder ihre Freundinnen sehen noch aus dem Haus gehen. Die Wahrheit war, daß sie Angst hatte.
»Angst? Wovor hatte sie denn Angst?«
Vor dem Gebären natürlich. Und wieso auch nicht? Männer! sagte Wawara Safanowa – und dabei kehrte etwas von ihrem früheren Feuer zurück –, was wußten Männer schon vom Leben? Natürlich hatte Anna Angst. Jeder, der Augen im Kopf und Verstand genug hatte, hätte Angst gehabt. Und dieses Baby machte ihr schwer zu schaffen, der kleine Teufel. Es saugte ihr das Lebensblut aus. Oh, ein richtiger kleiner Teufel – wie der
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