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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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strampeln konnte! Abends saßen sie immer da und sahen zu, wie ihr Bauch sich von den Tritten wölbte.
    Mechlis erschien von Zeit zu Zeit, um sie im Auge zu behalten. Fast ununterbrochen stand ein Wagen mit zwei von seinen Männern am unteren Ende der Straße.
    Nein, sie hatten sie nicht gefragt, wer der Vater war.
    Anfang April begann sie zu bluten. Sie brachten sie in die Klinik. Und das war das letzte Mal, daß sie sie gesehen hatten. Sie hatte im Kreißsaal einen Blutsturz. Der Arzt hatte ihnen hinterher alles berichtet. Es war nichts zu machen gewesen. Sie starb zwei Tage später auf dem Operationstisch. Sie war gerade erst zwanzig.
    »Und das Baby?«
    Das Baby blieb am Leben. Ein Junge.
    Alles Erforderliche wurde vom Genossen Mechlis veranlaßt. Das sei das Mindeste, was er für sie tun könne, erklärte er ihnen. Er fühle sich verantwortlich.
    Es war Mechlis, der den Arzt besorgte – einen Professor, die größte Kapazität des Landes, der eigens aus Moskau eingeflogen worden war –, und Mechlis, der die Adoption in die Wege leitete. Die Safanows hätten das Kind gern selbst aufgezogen – sie baten darum, sie flehten –, aber Mechlis hatte ein von Anna unterschriebenes Papier, in dem sie erklärte, wenn ihr irgend etwas zustoßen sollte, dann wolle sie, daß das Kind adoptiert werden würde, und zwar von irgendwelchen Verwandten des Vaters, einem Ehepaar namens Tschischikow.
    »Tschischikow?« sagte Kelso. »Sind Sie da ganz sicher?« Natürlich.
    Sie bekamen das Kind nicht einmal zu Gesicht. Der Zutritt zum Krankenhaus wurde ihnen verwehrt.
    Sie war willens gewesen, all das zu akzeptieren, weil Wawara Safanowa an die Parteidisziplin glaubte. Sie tue es immer noch. Sie würde bis zum Tag ihres Todes an sie glauben. Die Partei war ihr Gott, und manchmal waren die Wege der Partei, wie die Gottes, unerforschlich.
    Aber Michail Safanow akzeptierte die Doktrin der Unfehlbarkeit nicht mehr. Er war entschlossen, diese Tschischikows zu finden, ganz gleich, was Mechlis sagte, und er hatte immer noch genügend Freunde in der Regionalpartie, die ihm dabei halfen. Und dabei fand er heraus, daß die Tschischikows durchaus keine feinen Leute aus Moskau waren – was er eigentlich erwartet hatte –, sondern Menschen aus dem Norden wie sie, die sich in einem Dorf im Wald nahe Archangelsk niedergelassen hatten. In der Stadt wurde gemunkelt, daß das nicht ihr wirklicher Name sei. Daß sie zum NKWD gehörten.
    Inzwischen war es Winter geworden, und es gab nichts, was Michail hätte unternehmen können. Und dann, eines Morgens im zeitigen Frühjahr, als er, wie gewöhnlich jeden Tag, nach den ersten Anzeichen des Tauwetters Ausschau hielt, hörten sie beim Aufwachen feierliche Musik im Radio und die Nachricht, daß Genosse Stalin tot sei.
    Sie hatte geweint, und Michail auch. Ob Kelso überrascht sei?
    Oh, sie hatten geheult und sich in den Armen gelegen! Sie hatten geweint, wie sie es nie zuvor getan hatten, nicht einmal um Anna. Ganz Archangelsk trauerte. Sie konnte sich noch an den Tag der Beisetzung erinnern. Die lange Stille, unterbrochen von dreißig Schuß Salut. Das Echo der Schüsse war über die Dwina hinweggerollt wie ein fernes Gewitter im Wald.
    Zwei Monate später, im Mai, als das Eis geschmolzen war, hatte Michail einen Rucksack gepackt und war losgezogen, um seinen Enkel zu finden.
    Sie hatte gewußt, daß nichts Gutes dabei herauskommen würde.
    Ein Tag verging, dann der zweite, dann der dritte. Er war ein gesunder und kräftiger Mann gewesen – erst fünfundvierzig.
    Am fünften Tag hatten ein paar Fischer seine Leiche gefunden, die ungefähr dreißig Werst stromaufwärts im gelben Schmelzwasser trieb, das aus dem Wald herausströmte, nicht weit von Nowodwinsk entfernt.
    Kelso entfaltete O’Brians Karte und breitete sie auf dem Tisch aus. Sie setzte ihre Brille auf und verfolgte die blaue Linie der Dwina, wobei sie ihr gesundes Auge ganz nahe über die Karte hielt.
    Da, sagte sie nach einer Weile und zeigte auf einen Punkt. Das war die Stelle, an der die Leiche ihres Mannes gefunden worden war. Es war eine unwirtliche Stelle. Im Wald gab es Wölfe und Luchse und Bären. An manchen Stellen standen die Bäume so dicht, daß ein Mann nicht zwischen ihnen hindurchkam. An anderen gab es Sümpfe, die einen im Handumdrehen verschluckten. Und hier und dort fanden sich die grauen, verwitterten Überbleibsel der einstigen Kulaken-Siedlungen. Natürlich waren fast alle Kulaken verschwunden. An einem solchen Ort

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