Aurora
gab es kaum etwas, wovon man leben konnte.
Michail kannte sich im Wald bestens aus. Er war von Kindesbeinen an immer in der Taiga herumgewandert.
Der Miliz zufolge war es ein Schlaganfall gewesen. Das jedenfalls hatten sie behauptet. Vielleicht hatte er versucht, seine Wasserflasche zu füllen? Er war in das kalte, gelbe Wasser gefallen, und der Schock hatte sein Herz zum Stillstand gebracht.
Sie hatte ihn auf dem Kusnetscheskoje-Friedhof neben Anna begraben.
»Und wie«, sagte Kelso, der sich plötzlich der Tatsache bewußt wurde, daß O’Brian direkt hinter ihm stand und sie mit seiner verdammten Miniaturkamera filmte, »wie hieß das Dorf, in dem Ihrem Mann zufolge die Tschischikows lebten?«
Ah! Was glaubte denn er? Wie konnte er erwarten, daß sie sich daran erinnerte? Es war so lange her – fast fünfzig Jahre…
Sie brachte ihr Gesicht wieder ganz nahe an die Karte heran. Hier irgendwo – sie legte einen zittrigen Finger auf eine unmittelbar nördlich des Flusses gelegene Stelle irgendwo in dieser Gegend; ein Ort, der zu klein war, um auf einer Karte verzeichnet zu werden. Sogar zu klein, um einen Namen zu haben.
»Sie haben selbst nie versucht, den Jungen zu finden?«
»O nein.«
Sie sah Kelso entsetzt an.
»Dabei kann nichts Gutes herauskommen. Damals nicht. Und heute auch nicht.«
24. Kapitel
Der große Wagen bremste scharf und bog kurz vor zwölf von der Schnellstraße im Süden Moskaus auf das Gelände der Militärbasis Schukowski ab, wobei sich Felix Suworin am Haltegurt auf dem Rücksitz festklammerte. Hinter dem Kontrollpunkt wartete ein Jeep. Sobald sich der Schlagbaum hob, setzte er sich mit flackernden Rücklichtern in Bewegung, und sie folgten ihm um die Seite des Abfertigungsgebäudes herum, passierten einen Drahtzaun und erreichten dann das Vorfeld.
Ein kleines graues Flugzeug – eine sechssitzige Propellermaschine – wurde gerade von einem Tanklaster mit Treibstoff versorgt. Hinter dem Flugzeug stand eine Reihe von dunkelgrünen Kampfhubschraubern mit herabhängenden Rotoren; neben dem Flugzeug wartete eine große Sil-Limousine.
Nun ja, dachte Suworin, ein paar Sachen scheinen hierzulande ja immer noch zu funktionieren.
Er verstaute seine Notizen in seinem Aktenkoffer und rannte durch Wind und Regen auf die Limousine zu, wo Arsenjews Fahrer bereits die hintere Tür öffnete.
»Und?« sagte Arsenjew aus der Wärme des Wageninnern heraus.
»Und«, sagte Suworin und glitt auf den Sitz neben ihm, »es ist nicht das, was wir dachten. Und danke, daß Sie für das Flugzeug gesorgt haben.«
»Warten Sie in dem anderen Wagen«, sagte Arsenjew zu seinem Fahrer.
»Ja, Oberst.«
»Was ist nicht das, was wer dachte?« sagte Arsenjew, als die Tür wieder geschlossen war. »Guten Morgen übrigens.«
»Guten Morgen, Juri Semjonowitsch. Das Notizbuch. Alle Welt hat immer geglaubt, es hätte Stalin gehört. Aber jetzt hat sich herausgestellt, daß es ein Tagebuch ist, das ein Dienstmädchen von Stalin geführt hat, Anna Michailowna Safanowa. Er hatte sie aus Archangelsk kommen lassen, damit sie für ihn arbeitete, im Sommer 1951, ungefähr achtzehn Monate vor seinem Tod.«
Arsenjew musterte ihn.
»Und das ist alles? Das hat Berija gestohlen?«
»Das ist alles. Abgesehen von ein paar Papieren über sie, wie es scheint.«
Arsenjew starrte Suworin unverwandt an, dann begann er zu lachen und schüttelte erleichtert den Kopf. »Das ist doch kaum zu glauben! Der alte Dreckskerl hat sein Dienstmädchen gefickt? Läuft es darauf hinaus?«
»Offensichtlich.«
»Das ist köstlich! Das ist brillant!« Er trommelte mit der Faust auf die Lehne des Sitzes vor ihm. »Oh, da möchte ich dabeisein! Ich möchte Mamantows Gesicht sehen, wenn er herausfindet, daß das Testament seines großen Stalin nicht mehr ist als der Bericht eines Dienstmädchens darüber, wie der große Woschd sie flachgelegt hat!« Er warf einen Blick auf Suworin. Seine fetten Wangen waren puterrot, und die Augen funkelten vor Vergnügen. »Was ist los, Felix? Tun Sie nicht so, als könnten Sie der Sache nichts Komisches abgewinnen.« Er hörte auf zu lachen. »Was ist los? Sie sind ganz sicher, daß das alles stimmt?«
»Ziemlich sicher, Oberst, ja. Ich habe das alles von der Frau erfahren, die wir letzte Nacht aufgegriffen haben, Sinaida Rapawa. Sie hat das Tagebuch gestern nachmittag gelesen – ihr Vater hatte es ziemlich umständlich versteckt. Ich glaube nicht, daß sie eine solche Geschichte erfinden würde. So was kann
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