Aurora
öffnete die Tür des eisernen Ofens und warf die Haarmasse auf das brennende Holz, wo sie kurz aufflackerte, bevor sie zu Asche und Rauch zusammenschrumpfte.
»Großer Gott«, flüsterte Kelso, und dann schaute er fassungslos zu, wie O’Brian den Kamerakoffer öffnete. »O nein. Das ist unmöglich. Das können Sie nicht tun.«
»Ich kann.«
»Aber er ist verrückt.«
»Das ist die Hälfte der Leute, die wir ins Fernsehen bringen.« O’Brian legte eine neue Kassette in die Kamera ein und lächelte, als sie einrastete. »Showtime.«
Hinter ihm hatte der Russe den Kopf über den auf dem Ofen dampfenden Wassertopf gebeugt. Er hatte sich bis auf ein schmutziges gelbes Unterhemd ausgezogen und sein Gesicht mit irgend etwas eingeseift. Das Schaben des Messers über die Stoppeln löste bei Kelso eine Gänsehaut aus.
»Sehen Sie ihn sich doch an«, flüsterte Kelso. »Er weiß vermutlich nicht einmal, was Fernsehen ist.«
»Soll mir nur recht sein.«
»O Gott.« Kelso schloß die Augen.
Der Russe drehte sich zu ihnen um und wischte sich dabei die Hände an seinem Hemd ab. Sein Gesicht war fleckig, mit stecknadelkopfgroßen Blutstropfen übersät, aber er hatte einen dichten Schnurrbart stehengelassen, so schwarz und fettig wie Krähenschwingen, und die Verwandlung war verblüffend. Hier stand der Stalin der zwanziger Jahre: Stalin im besten Mannesalter, voller animalischer Kraft. Wie hatte Lenins Vorhersage gelautet? »Dieser Georgier wird uns eine gepfefferte Suppe servieren.«
Er stopfte sein Haar unter die Marschallsmütze. Er zog den Rock an. Er saß vorn vielleicht ein wenig locker, aber sonst paßte er ihm genau. Er knöpfte ihn zu und stolzierte ein paarmal durchs Zimmer, wobei er die rechte Hand in einer imperialen Geste schwenkte.
Er nahm einen der Bände der Gesammelten Werke in die Hand, schlug ihn aufs Geratewohl auf, warf einen Blick auf die Seite und gab ihn Kelso.
Dann lächelte er, hob einen Finger, hustete in die Hand, räusperte sich und begann zu sprechen. Und er war gut, das war Kelso von der ersten Sekunde an klar. Sein Vortrag war nicht nur wortgetreu. Er war viel mehr als nur das. Er mußte die Aufzeichnung studiert haben, Stunde um Stunde, Jahr für Jahr seit seiner Kindheit. Er hatte den vertrauten, monotonen, unerbittlichen Tonfall, den brutalen, beschwörenden Rhythmus. In ihm steckten der bissige Sarkasmus, der finstere Humor, die Kraft, der Haß.
»Dieses Trotzki-Bucharin-Gesindel von Spionen, Mördern und Saboteuren«, begann er langsam, »das vor dem Ausland gekatzbuckelt hat, das besessen war von einem sklavischen Instinkt, vor jedem großen Tier im Ausland zu kriechen, und das bereit war, als Spione in dessen Dienste zu treten…« Seine Stimme wurde lauter. »… diese Handvoll Leute, die nicht verstanden hatten, daß der ärmste Sowjetbürger, von den Fesseln des Kapitalismus befreit, turmhoch über jedem großen Tier im Ausland steht, dessen Nacken das Joch der kapitalistischen Sklaverei beugt…« Jetzt brüllte er. »… wer braucht diese elende Schar von korrupten Sklaven, welchen Wert könnten sie für das Volk haben, und wen könnten sie demoralisieren?«
Er funkelte sie an, forderte alle und alles heraus – Kelso mit dem offenen Buch, O’Brian mit der Kamera vor dem Gesicht, den Tisch, den Ofen, die Schädel –, warnte davor, ihm mit irgendwelchen Widerworten zu kommen.
Er reckte sich hoch, schob das Kinn vor.
»1937 wurden Tuchatschewski, Jakir, Uborewitsch und andere Volksfeinde zum Tode verurteilt und erschossen. Bei den hierauf stattfindenden Wahlen für den Obersten Sowjet wurden 98,6 Prozent der Stimmen für die Sowjetmacht abgegeben!
Anfang 1938 wurden Rosengolz, Rykow, Bucharin und andere Volksfeinde zum Tode verurteilt und erschossen, und kurz darauf fanden die Wahlen in die Obersten Sowjets der Räterepubliken statt. Bei diesen Wahlen betrugen die für die Sowjetmacht abgegebenen Stimmen 99,4 Prozent! Da fragen wir uns doch – wo sind da die Symptome einer Demoralisierung?«
Er drückte eine Faust aufs Herz.
»Das war das schimpfliche Ende jener Leute, die gegen die Linie unserer Partei opponierten und dann zu Volksfeinden wurden!«
»Stürmischer Applaus«, las Kelso. »Alle Delegierten springen auf und jubeln dem Redner zu. Rufe werden laut.›Ein Hurra dem Genossen Stalin! – Lang lebe der Genosse Stalin! -Ein Hurra dem Zentralkomitee unserer Partei!«
Der Russe schwankte vor dem Tosen der toten Menge. Er konnte das Johlen hören, die
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