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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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Gewehr, machte kehrt und bewegte sich flink auf die Bäume zu.
    »Was nun?« flüsterte O’Brian.
    »Das weiß nur Gott allein.«
    »Schaffen wir es, ihm das Gewehr abzunehmen? Wir zwei gegen den einen?«
    Kelso sah ihn fassungslos an. »Daran sollten Sie nicht einmal denken.«
    »Ach Sie. Obwohl, der Bursche ist wirklich verdammt flink. Und total verrückt.« O’Brian kicherte nervös. »Sehen Sie ihn sich an. Was tut er jetzt?«
    Aber er tat gar nichts, sondern stand nur reglos zwischen den Bäumen und wartete.
    Es schien ihnen kaum etwas anderes übrigzubleiben, als ihm zu folgen, was in Anbetracht seines Tempos, der Unwegsamkeit des Waldbodens und O’Brians Behinderung durch sein verletztes Bein nicht leicht war. Kelso trug den Kamerakoffer. Ein oder zweimal schienen sie ihn verloren zu haben, aber nie für längere Zeit. Offenbar blieb er zwischendurch stehen, damit sie ihn einholen konnten.
    Nach ein paar Minuten waren sie wieder auf der Piste, aber weiter oben, ungefähr in der Mitte zwischen dem verlassenen Toyota und der leeren Siedlung.
    Er hielt nicht an, sondern führte sie über die verschneite Piste direkt in den Wald auf der anderen Seite.
    Das ist nicht gut, dachte Kelso, als sie das graue Licht hinter sich ließen und in die Schatten zurückkehrten. Verstohlen und ohne sein Tempo zu verlangsamen, steckte er die Hand in die Tasche und riß eine der gelben Seiten von seinem Notizblock, knüllte sie zusammen und ließ sie hinter sich fallen. Das tat er ungefähr alle fünfzig Meter, wie bei den Schnitzeljagden in der Schulzeit.
    »Gut gemacht«, flüsterte O’Brian, der hinter ihm herkeuchte. Sie erreichten eine kleine Lichtung, in deren Mitte eine Holzhütte stand. Er hatte gute Arbeit geleistet, und zwar, dem Aussehen der Hütte nach zu urteilen, erst kürzlich: mit ausgeschlachtetem Material aus der alten Siedlung. Weshalb er das getan hatte, fand Kelso nie heraus. Vielleicht gab es an dem anderen Platz zu viele Gespenster. Aber vielleicht hatte er auch einen abgeschiedeneren und leichter zu verteidigenden Ort gewollt. In der Stille war es Kelso, als hörte er fließendes Wasser, und er vermutete, daß sie sich in der Nähe des Flusses befanden.
    Die Hütte bestand aus dem vertrauten grauen Holz, hatte ein Fenster und eine seiner Größe entsprechende Tür, die einen Meter über der Erde lag und zu der man vier Holzstufen hinaufsteigen mußte. An ihrem unteren Ende hob der Mann einen Ast auf und steckte ihn tief in den Schnee. Etwas sprang hoch, schnappte zu, und weißer Pulverschnee stob auf. Er zog den Ast heraus. An seinem Ende hing ein großes Fangeisen, dessen rostige Metallzähne sich tief in das Holz gebohrt hatten.
    Er legte das Eisen vorsichtig beiseite, stieg die Stufen zur Tür hinauf, öffnete das Vorhängeschloß und ging hinein. Nach einem kurzen Blickwechsel mit O’Brian folgte ihm Kelso, zog wegen der niedrigen Tür den Kopf ein und gelangte in den einzigen Raum. Er war dunkel und kalt, und er konnte den Wahnsinn riechen – er inhalierte die einsame Verrücktheit, so scharf und sauer wie der in der Luft hängende Gestank nach ungewaschenem Fleisch. Hinter sich hörte er, wie O’Brian den Atem einsog.
    Ihr Gastgeber hatte eine Kerosinlampe angezündet. Aus den Schatten leuchteten die gebleichten Schädel eines Bären und eines Wolfes. Er legte die Mappe mit dem schwarzen Notizbuch auf den Tisch neben einen noch halbvollen Teller mit irgendeinem dunklen und grätenreichen Fisch, stellte einen Topf mit Wasser auf den alten Eisenofen, bückte sich, um das Feuer wieder in Gang zu bringen, das Gewehr immer griffbereit.
    Kelso konnte sich ihn eine Stunde zuvor vorstellen: wie er das ferne Geräusch ihres Wagens auf der Piste hörte, sein Essen im Stich ließ, sein Gewehr packte, das Feuer löschte und sich auf den Weg in den Wald machte, um sie in die Falle zu locken…
    Es gab kein Bett, lediglich eine dünne Matratze, aus der die Füllung herausquoll, aufgerollt und mit Bindfaden verschnürt. Daneben stand ein altes Transistorradio, ein russisches Fabrikat von der Größe einer Packkiste, und daneben ein altes aufziehbares Grammophon mit einem angelaufenen Messingtrichter.
    Der Russe öffnete die Mappe und holte das Notizbuch heraus. Er schlug es bei dem Bild der jungen Turnerinnen auf dem Roten Platz auf und streckte es ihnen entgegen: Da, seht ihr? Sie nickten. Er legte es auf den Tisch. Dann zog er an einem fettigen Lederband, das er um den Hals trug, und zog immer weiter, bis er

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