Aurora
herabstürzendem Schnee durchbrochen – er konnte kein festes Bild von irgend etwas gewinnen, an so einem Ort war er noch nie gewesen. Jetzt schwitzte er heftig, trotz der Kälte. Seine Haut kribbelte.
Und da fing das Heulen an – ein ohrenbetäubendes, unmenschliches Geheul. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Kelso begriffen hatte, daß es die Alarmanlage des Wagens war.
Dann kamen zwei laute Schüsse in rascher Folge, dann eine Pause, und dann ein dritter.
Danach herrschte Stille.
Hinterher war sich Kelso nie sicher, wie lange sie so dagestanden hatten. Er erinnerte sich nur an ein Angstgefühl, das jede Bewegung unmöglich machte, die Lähmung von Denken und Handeln, die aus der Erkenntnis erwuchs, daß es nichts gab, was sie tun konnten. Er – wer immer er sein mochte – wußte, wo sie waren. Er hatte auf ihren Wagen geschossen. Er hatte im Wald Fallen angebracht. Er konnte sie sich holen, wann immer er wollte. Oder er konnte sie verhungern lassen, wo sie waren. Es gab keinerlei Hoffnung auf Rettung durch die Außenwelt. Er war absoluter Herr der Lage. Unsichtbar. Alles sehend. Allmächtig. Wahnsinnig.
Nach einer Weile trauten sie sich zu flüstern.
»Das Telefon«, sagte O’Brian, »was ist, wenn er das Inmarsat-Telefon beschädigt hat? Es ist unsere einzige Hoffnung, und es liegt in dem verdammten Toyota.«
»Vielleicht weiß er nicht, wie ein Satelliten-Telefon aussieht«, sagte Kelso. »Vielleicht sollten wir hierbleiben, bis es ganz dunkel ist, und dann gehen wir los und holen es uns…«
Plötzlich packte O’Brian ihn hart am Ellenbogen. Ein Gesicht musterte sie durch die Bäume hindurch.
Zuerst sah Kelso es nicht, es war so vollkommen reglos so unnatürlich, so absolut bewegungslos, daß er einen Moment brauchte, um es zu erkennen, die Teile von den Formen der Waldes zu trennen, sie zusammenzusetzen und das Ergebnis für menschlich zu erklären.
Dunkle, gefühllose Augen, die nicht zwinkerten. Schwarze, gewölbte Brauen. Strubbeliges schwarzes Haar, das in die ledrige Stirn hing. Ein Bart.
Da war außerdem eine Kapuze aus dem braunen Fell irgendeines Tieres.
Die Erscheinung hustete. Sie grunzte.
»Genossen«, sagte sie. Das Wort war verschliffen, die Stimme mißtönend, wie ein Tonband, das mit einer zu geringen Geschwindigkeit abgespielt wird.
Kelso spürte, wie sich ihm die Haare aufrichteten.
»O Gott«, sagte O’Brian. »O Gott, o Gott.«
Es folgte ein weiteres Husten und dann ein heftiges Räuspern. Ein Klumpen gelber Schleim landete im Unterholz. »Genossen, ich bin ein grober Kerl. Ich kann es nicht leugnen. Und ich habe lange keine menschliche Gesellschaft mehr gehabt. Aber so ist es. Also? Wollt ihr, daß ich euch erschieße? Ja?«
Er trat vor sie – schnell und so gewandt, daß sich kaum ein Zweig bewegte. Er trug einen alten Armeemantel geflickt, über den Knien zerfetzt, und mit einem Stück Seil als Gürtel – und Kavalleriestiefel, in die er die sackartige Hose gestopft hatte. Seine Hände waren riesig und bloß. In einer trug er ein altes Gewehr, in der anderen die Mappe mit Annas Tagebuch und den anderen Papieren.
Kelso spürte, wie sich O’Brians Griff an seinem Arm verstärkte.
»Ist das das Buch, von dem ich gehört habe? Ja? Und die Papiere beweisen es!« Die Gestalt lehnte sich ihnen entgegen, bewegte ruckartig den Kopf von einer Seite zur anderen, musterte sie eingehend. »Ihr seid es also? Ihr seid es also wirklich?«
Er kam näher, betrachtete sie mit seinen dunklen Augen, und Kelso konnte seinen Körpergestank riechen, einen widerlichen säuerlichen Schweißgeruch.
»Oder seid ihr vielleicht Spinnen?«
Er trat einen Schritt zurück und hob das Gewehr, zielte von der Hüfte aus, mit dem Finger am Abzug.
»Wir sind es«, sagte Kelso rasch.
Der Mann zog überrascht eine Braue hoch. »Imperialisten?«
»Ich bin ein englischer Genosse. Der Genosse hier ist Amerikaner.«
»England und Amerika! Und Engels war Jude!« Er lachte, zeigte schwarze Zähne, dann spuckte er wieder aus. »Und trotzdem habt ihr mich noch nicht nach Beweisen gefragt. Warum nicht?«
»Wir vertrauen Ihnen.«
»›Wir vertrauen Ihnen.‹« Er lachte wieder. »Imperialisten! Immer nette Worte. Nette Worte, und dann bringen sie einen für eine Kopeke um. Für eine Kopeke! Wenn ihr es wirklich wäret, würdet ihr Beweise verlangen.«
»Wir verlangen Beweise.«
»Ich habe Beweise«, sagte er herausfordernd. Er ließ den Blick von dem einen Mann zum anderen wandern, dann senkte er das
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