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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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von irgendwo tief in den stinkenden Falten seiner Kleidung eine kleine, durchsichtige Plastikhülle zutage gefördert hatte. Er hielt sie Kelso hin; sie war ganz warm: Dasselbe Bild war in der Hülle zu sehen, aber sehr klein zusammengefaltet, so daß nur Anna Safanowas Gesicht zu sehen war.
    »Ihr seid es«, sagte er. »Ich bin der, den ihr sucht. Und nun:
    die Beweise.«
    Er küßte sein selbstgebasteltes Amulett und versenkte es wieder in seiner Kleidung. Dann zog er aus dem Gürtel seines Mantels ein kurzes Messer mit breiter Klinge und einem Ledergriff. Er drehte es in der Hand, zeigte ihnen, wie scharf die Schneide war. Er grinste sie an. Er kickte das Stückchen Teppich unter seinen Füßen beiseite, ließ sich auf die Knie fallen und hebelte eine primitive Falltür auf.
    Er bückte sich und zog einen großen, schäbigen Koffer heraus.
    Er packte sein Reliquiar aus wie ein Priester und legte ehrerbietig einen Gegenstand nach dem anderen auf den rohgezimmerten Tisch, als wäre er ein Altar.
    Zuerst kamen die heiligen Texte zum Vorschein: die dreizehn Bände von Stalins gesammelten Werken und Gedanken, die Sotschinenija, die nach dem Krieg in Moskau veröffentlicht wurden. Er zeigte die Titelseite jedes Bandes zuerst Kelso und dann O’Brian. Alle waren auf dieselbe Art signiert – »Auf die Zukunft, J. W. Stalin« –, und alle waren ganz offensichtlich unablässig gelesen und immer wieder gelesen worden. Bei einigen der Bände waren die Rücken gebrochen oder hingen lose. Die Buchblöcke waren angeschwollen von Lesezeichen und umgeknickten Ecken.
    Danach kam die Uniform, jedes Teil sorgfältig in vergilbtes Seidenpapier eingeschlagen. Ein gebügelter grauer Rock mit roten Schulterstücken. Eine schwarze Hose, gleichfalls gebügelt. Ein Mantel. Ein Paar schwarze Lederstiefel, funkelnd wie polierter Anthrazit. Eine Marschallsmütze. Ein goldener Stern in einem tiefroten Lederetui, in das Hammer und Sichel eingeprägt waren, den Kelso als den Orden der Helden der Sowjetunion erkannte.
    Und dann kamen die Andenken. Eine Fotografie (in einem Holzrahmen, unter Glas) von Stalin, hinter seinem Schreibtisch stehend; wie die Bücher signiert mit »Auf die Zukunft, J. W. Stalin«. Eine Dunhill-Pfeife. Ein Umschlag mit einer Strähne aus dickem, grauem Haar. Und schließlich Schellackplatten, alte 78er, so dick wie Eßteller, alle noch in ihren Originaltaschen:
    »Mutter, die Felder sind staubig«, »Ich warte auf dich«, »Nachtigall der Taiga«, »J. W. Stalin: Rede auf dem Ersten Allunions-Kongreß der Kolchosen-Stoßarbeiter, 19. Februar 1933«, »J. W. Stalin: Rede vor dem 18. Kongreß der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 10. März 1939«… Kelso konnte sich nicht rühren. Er brachte kein Wort heraus.
    Es war O’Brian, der den ersten Schritt tat. Er sah den Russen an, tippte sich auf die Brust, deutete auf den Tisch und bekam ein zustimmendes Nicken. Er streckte langsam die Hand aus und nahm die Fotografie auf. Kelso konnte eine verblüffende Ähnlichkeit erkennen. Nicht exakt natürlich – kein Sohn sieht je exakt so aus wie sein Vater –, aber etwas war da, daran konnte kein Zweifel bestehen, trotz des Bartes und des strähnigen Haars des jüngeren Mannes. Vielleicht etwas in der Stellung der Augen und der Knochenstruktur oder im Mienenspiel: eine Art schwerfällige Behendigkeit, ein genetischer Schatten, den kein Schauspieler hätte zustande bringen können.
    Der Russe grinste O’Brian an. Er nahm sein Messer und zeigte auf die Fotografie, dann deutete er pantomimisch ein Einhacken auf seinen Bart an. Ja?
    Einen Augenblick lang war Kelso nicht klar, was er meinte, aber O’Brian begriff sofort.
    Ja. Er nickte heftig. O ja. Ja, bitte.
    Daraufhin säbelte der Russe sofort einen breiten Streifen seines Gesichtshaars herunter und streckte es ihnen mit kindlichem Vergnügen zur Inspektion hin. Er wiederholte den Messerstrich immer wieder, und es war etwas äußerst Beunruhigendes an der Art, auf die er das tat, in der beiläufigen Handhabung des rasierklingenscharfen Messers – die eine Seite, dann die andere, und dann die Kehle –, in dieser unbekümmerten Selbstverstümmelung. Es gibt nichts, dachte Kelso, dem es langsam zur Gewißheit wurde, »es gibt keine Gewalttat, deren dieser Mann nicht fähig ist. Der Russe griff sich hinter den Kopf, raffte sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen und schnitt es so dicht an den Wurzeln ab, wie er konnte. Dann durchquerte er die Hütte mit zwei Schritten,

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