Aurora
wieder an das kühle weiße Becken wie ein ertrinkender Mann. Der Horizont kippte, und das Zimmer kam ins Rutschen.
Ein Rascheln in der Dunkelheit. Ein Paar gelbe Augen.
»Wie können Sie es wagen«, sagte Stalin, »meine Privatpapiere zu stehlen?«
Er sprang wie ein Wolf von seinem Sofa.
Kelso wurde ruckartig wach und stieß mit dem Kopf gegen den vorspringenden Rand der Badewanne. Er stöhnte und drehte sich auf den Rücken, betastete seinen Kopf auf Blut. Er war sicher, eine klebrige Flüssigkeit zu spüren, aber als er die Finger ganz nahe an seine Augen heranbrachte und sie anblinzelte, waren sie sauber.
Wie immer, sogar jetzt, wo er auf dem Fußboden eines Moskauer Badezimmers lag, gab es einen Teil von ihm, der erbarmungslos nüchtern blieb, wie der verwundete Kapitän auf der Brücke eines getroffenen Schiffs, der durch den Qualm der Schlacht hindurch gelassen befiehlt, ihm das Ausmaß der Schäden zu melden. Das war der Teil von ihm, der zu dem Schluß gelangte, daß er sich, so miserabel er sich jetzt auch fühlte, erstaunlicherweise manchmal schon weitaus schlechter gefühlt hatte. Und das war der Teil von ihm, der trotz des. dumpfen Hämmerns seiner Schläfen das Knarren von Fußtritten hörte und das Klicken einer Tür, die leise geschlossen wurde.
Kelso biß die Zähne zusammen und bewegte sich mittels Willenskraft durch sämtliche Stadien der menschlichen Evolution – von dem Schleim auf dem Boden auf Hände und Knie, in eine Art schlurfende, affenartige Hocke – und katapultierte sich dann in das leere Hotelzimmer. Graues Licht sickerte durch dünne orangefarbene Vorhänge und erhellte die Überreste der Nacht. Der saure Geruch von verschüttetem Schnaps und schalem Rauch bewirkte, daß sich sein Magen erneut zusammenkrampfte. Trotzdem und in der Anstrengung steckten sowohl Heroismus als auch Verzweiflung – eilte er zur Tür.
»Papu Gerassimowitsch! Warten Sie!«
Der Gang lag düster und leer da. Von seinem Ende, um die Ecke herum, ertönte das Klingeln eines ankommenden Fahrstuhls. Aufstöhnend rannte Kelso auf ihn zu und kam gerade noch rechtzeitig an, um zu sehen, wie die Türen zuglitten. Er versuchte, sie mit den Fingern aufzuhebeln, rief in den Spalt hinein, Rapawa solle zurückkommen. Er drückte mit dem Handrücken ein paarmal auf den Rufknopf, aber nichts passierte, also rannte er die Treppe hinunter. Er kam bis zum 20. Stock, bevor ihm klar wurde, daß er sich geschlagen geben mußte. Er blieb auf dem Treppenabsatz stehen und drückte auf den Knopf für den Aufzug, und dann stand er da und wartete, lehnte sich an die Wand, außer Atem, gegen den Brechreiz ankämpfend, mit einem stechenden Messer hinter den Augen. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Fahrstuhl kam, und als er endlich da war, beförderte er ihn prompt die zwei Etagen wieder hoch, die er gerade hinuntergerannt war. Die Türen öffneten sich höhnisch in den leeren Gang.
Als Kelso schließlich im Erdgeschoß anlangte – die Ohren knackten ihm von der schnellen Abwärtsfahrt –, war Rapawa bereits verschwunden. In der marmornen Gruft des Foyers des Hotels Ukraina war niemand außer einer Babuschka, die Asche von dem roten Teppich saugte, und einer platinblonden Nutte mit einem falschen Zobel um die Schultern, die sich mit einem Wachmann stritt. Als Kelso auf den Eingang zusteuerte, war er sich bewußt, daß alle drei bei dem, was sie gerade taten, innehielten und ihn anstarrten. Er legte eine Hand auf die Stirn. Sie war klatschnaß vor Schweiß.
Draußen war es kalt und noch nicht ganz hell. Ein frostiger Oktobermorgen. Aus dem Fluß stieg feuchte Kälte auf. Trotzdem begann sich schon jetzt der morgendliche Stoßverkehr auf dem Kutusowski-Prospekt zu stauen, bis zurück zur Kalininski-Brücke. Er ging ein Stück weiter, bis zur Hauptstraße, und dort blieb er ein oder zwei Minuten stehen. Er zitterte, hemdsärmelig wie er dastand. Keine Spur von Rapawa. Auf dem Gehsteig rechts von ihm schlich ein alter, grauer Hund – groß und halbverhungert – an den massigen Gebäuden entlang in Richtung Osten auf die erwachende Stadt zu.
Teil eins
Moskau
»Sich seine Opfer aussuchen, seine
Pläne bis ins kleinste Detail ausarbeiten,
einen unersättlichen Rachedurst stillen
und dann schlafen gehen… etwas Schöneres
gibt es auf der ganzen Welt nicht.«
J. W. Stalin im Gespräch mit
Kamenew und Dserschinksi
1. Kapitel
Olga Komarowa von der Rosarchiv, der Russischen Archivbehörde, drängte und scheuchte, einen
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