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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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dessen Achterdeck ein Kran montiert war, träge stromaufwärts.
    Er wäre beinahe nicht nach Rußland gekommen. Das war der Witz an der Sache. Er wußte sehr genau, wie es sein würde: das schlechte Essen, das belanglose Gerede, die ganze verdammte Langeweile des akademischen Lebens – wo immer mehr über immer weniger geredet wurde. Genau deshalb hatte er Oxford den Rücken gekehrt und war nach New York gegangen. Aber irgendwie war aus den Büchern, die er eigentlich schreiben sollte, bisher nichts geworden. Und außerdem hatte er noch nie der Verlockung Moskaus widerstehen können. Selbst jetzt, in dem muffigen Bus im Mittwochs-Stoßverkehr, konnte er hinter der verdreckten Scheibe die Gewalt der Geschichte spüren: in den dunklen und umbenannten Straßen, den riesigen Mietskasernen, den gestürzten Denkmälern. Hier war sie stärker als an jedem anderen ihm bekannten Ort; sogar stärker als in Berlin. Das war es, was ihn immer wieder nach Moskau zog – die Art, wie die Geschichte zwischen den verrußten Gebäuden hing gleich Schwefel nach einem Blitzschlag.
    Sie glauben, alles über den Genossen Stalin zu wissen, stimmt’s, mein Junge? Aber ich kann Ihnen versichern: Sie haben nicht die geringste Ahnung.
    Kelso hatte seinen kurzen Vortrag über Stalin und das Archiv am späten Nachmittag des Vortages gehalten, und zwar in seinem wohlbekannten Stil: ohne Notizen, eine Hand in der Hosentasche, wie aus dem Stegreif, provokant. Die russischen Gastgeber hatten erfreulich entsetzt dreingeschaut. Ein paar Leute hatten sogar den Saal verlassen. Also, alles in allem ein wahrer Triumph. Hinterher, als er, wie nicht anders zu erwarten, völlig allein dastand, hatte er sich dazu entschlossen, zu Fuß ins Ukraina zurückzukehren. Es war ein langer Weg, und es wurde bereits dunkel, aber er brauchte die frische Luft. Und irgendwann – er konnte sich nicht mehr erinnern, wo es gewesen war; vielleicht in einer der kleinen Straßen hinter dem Institut oder vielleicht auch später, auf dem Nowy Arbat –, irgendwann hatte er gespürt, daß ihm jemand folgte. Es war nichts Greifbares, nur der flüchtige Eindruck von etwas, das er schon zu oft erlebt hatte – das Flattern eines Mantels oder das Auftauchen eines Kopfes aus der Menge –, aber Kelso war in der schlimmen alten Zeit oft genug in Moskau gewesen, um zu wissen, daß man sich in diesen Dingen nur selten irrte. Man wußte immer, wenn ein Film nicht ganz synchron lief, und sei es nur um Bruchteile; man wußte immer, wenn jemand sich für einen interessierte, und sei es noch so unwahrscheinlich; und man wußte immer, wenn man von jemandem beschattet wurde.
    Er war gerade in seinem Hotelzimmer angekommen und spielte mit dem Gedanken, die Minibar zu inspizieren, als man von der Rezeption anrief, um ihm mitzuteilen, daß ein Mann im Foyer warte, der ihn sprechen wolle. Wer? Er wollte seinen Namen nicht nennen, Sir. Aber er war überaus hartnäckig und wollte nicht gehen. Also war Kelso, wenn auch widerstrebend, hinuntergefahren und hatte Rapawa vorgefunden, in einem der Kunstledersessel des Ukraina vor sich hinstarrend, in einem papierdünnen blauen Anzug, aus dem die Unterarme wie dünne Besenstiele herausragten.
    »Sie glauben, alles über den Genossen Stalin zu wissen, stimmt’s, mein Junge…?« Das waren seine ersten Worte gewesen.
    Und in dem Moment fiel es Kelso auch wieder ein, wo er den alten Mann zum ersten Mal gesehen hatte: bei dem Symposium, in der ersten Reihe der für das Publikum bestimmten Sitze, wo er über seine Kopfhörer aufmerksam die Simultanübersetzung verfolgt und bei jeder feindseligen Erwähnung von J. W. Stalin murmelnd heftigen Widerspruch eingelegt hatte.
    Wer bist du? dachte Kelso, während er durch die schmutzige Scheibe schaute. Ein Spinner? Ein Schwindler? Die Antwort auf ein Gebet?
    Das Symposium würde zur großen Erleichterung Kelsos mit dem heutigen Tag zu Ende gehen, Gott sei Dank. Es wurde im Institut für Marxismus-Leninismus abgehalten – einem orthodoxen Tempel aus grauem Beton, in der Breschnew-Ära geweiht, mit Marx, Engels und Lenin in gigantischen Basreliefs über dem säulengeschmückten Eingang. Das Erdgeschoß war an eine Privatbank vermietet worden, die inzwischen pleite gegangen war, was den Eindruck der Verwahrlosung noch verstärkte.
    Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, von ein paar gelangweilt aussehenden Miliz-Leuten überwacht, fand eine kleine Demonstration statt – vielleicht hundert Leute, meist ältere,

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