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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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gesprochen haben. Wie weit sind Sie damit inzwischen gediehen?«
    »Ich sitze daran.«
    »Zweihundert Seiten? Einhundert?«
    »Was soll das, Frank?«
    »Wie viele Seiten?«
    »Ich weiß es nicht.« Kelso fuhr mit der Zunge über die trockenen Lippen. Es war fast unglaublich, aber er hatte das Gefühl, jetzt einen Drink nötig zu haben. »Vielleicht hundert.« Vor seinen Augen erstand das Bild eines leeren grauen Bildschirms, auf dem schwach ein Cursor flackerte wie der Puls einer lebenserhaltenden Maschine, die einen anfleht, daß man sie abschaltet. Er hatte noch kein einziges Wort geschrieben.
    »Also, Frank, es könnte doch etwas dahinterstecken, meinen Sie nicht? Schließlich neigte Stalin dazu, Dinge zu horten. Hat Chruschtschow nach Stalins Tod nicht in einem Geheimfach in dessen Schreibtisch einen Brief gefunden?« Er rieb sich den schmerzenden Kopf. »Den berühmten Brief von Lenin, in dem er Stalin vorwirft, wie der seine Frau behandelt? War das nicht so? Und dann gab es doch noch die Liste des Politbüros, bei der alle Namen angekreuzt waren, die der nächsten Säuberung zum Opfer fallen sollten. Und seine Bibliothek – erinnern Sie sich an seine Bibliothek? Er hatte in fast jedem Buch Notizen gemacht.«
    »Und worauf wollen Sie hinaus?«
    »Ich will damit nur sagen, daß doch etwas daran sein könnte, das ist alles. Daß Stalin nicht Hitler war. Daß er Dinge niederschrieb.«
    »Quod volimus credimus libenter«, deklamierte Adelman.
    »Was bedeutet…«
    »Ich weiß, was es bedeutet…«
    »… was bedeutet, mein lieber Fluke, daß wir immer das glauben, was wir glauben möchten.« Adelman schlug Kelso leicht auf den Arm. »Das möchten Sie aber nicht hören, oder? Tut mir leid. Wenn es Ihnen lieber ist, lüge ich auch. Ich sage Ihnen, daß dieser Mann eine einmalige Chance darstellt, daß seine Geschichte nicht ausgemachter Blödsinn ist. Ich sage Ihnen, daß er Sie zu Stalins unveröffentlichten Memoiren führen wird, daß Sie die Geschichte umschreiben werden. Sie werden Millionen von Dollar einheimsen, die Frauen werden Ihnen zu Füßen liegen, Duberstein und Saunders werden einen Chor bilden und mitten auf dem Harvard Yard eine Lobeshymne auf Sie singen.«
    »Schon gut, Frank.« Kelso lehnte den Hinterkopf an die Wand. »Ich habe verstanden. Ich weiß es nicht. Es ist nur… Vielleicht hätten Sie dabeisein müssen…« Er redete weiter, weil es ihm widerstrebte, seine Niederlage einzugestehen. »Es ist nur so, daß es bei mir eine Glocke zum Läuten bringt. Bei Ihnen nicht?«
    »Natürlich. Bei mir bringt es auch eine Glocke zum Läuten. Eine Alarmglocke.« Adelman zog eine alte Taschenuhr hervor.
    »Wir müssen zurück, sonst wird Olga wütend.« Er legte den Arm um Kelsos Schultern und führte ihn den Korridor entlang.
    »Sie können ohnehin nichts unternehmen. Morgen fliegen wir nach New York zurück. Lassen Sie uns miteinander reden, wenn wir wieder zu Hause sind. Zusehen, ob es in der Fakultät etwas für Sie gibt. Sie waren ein großartiger Lehrer.«
    »Ich war ein lausiger Lehrer.«
    »Sie waren ein großartiger Lehrer, bis Sie sich von den billigen Sirenen des Journalismus und der Publicity vom Pfad der Gelehrsamkeit und Rechtschaffenheit fortlocken ließen.
    Hallo, Olga.«
    »Da sind Sie ja! Die Sitzung fängt gleich an. Oh, Dr. Kelso… das geht aber nicht… hier dürfen Sie nicht rauchen.« Sie lehnte sich vor und holte ihm die Zigarette aus dem Mund. Sie hatte ein glänzendes Gesicht mit ausgezupften Augenbrauen und einem flaumigen, gebleichten Damenbart. Sie ließ die Kippe in den Bodensatz seines Kaffees fallen und nahm ihm die Tasse ab.
    »Weshalb ist es hier so hell?« fragte Kelso. Er legte die Hand auf die Stirn. Aus dem Vortragssaal drang gleißendes Scheinwerferlicht.
    »Fernsehen«, sagte Olga stolz. »Sie machen eine Sendung über uns.«
    »Ein lokaler Sender?« Adelman rückte seine Krawatte zurecht. »Oder überregional?«
    »Satellit, Professor. International.» »So, und wo sollen wir sitzen?« flüsterte Adelman, der die Augen gegen das grelle Licht abschirmte.
    »Dr. Kelso? Könnten Sie ein paar Worte sagen?« Ein amerikanischer Akzent. Kelso drehte sich um und sah einen großen, jungen Mann, der ihm vage bekannt vorkam.
    »Wie bitte?«
    »R. J. O’Brian«, sagte der Mann und streckte ihm die Hand hin. »Moskau-Korrespondent, Satellite News System. Wir machen einen Sonderbericht über die Kontroverse…«
    »Lieber nicht«, sagte Kelso. »Aber Professor Adelman hier –

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