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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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ich bin sicher, ihm wäre es ein Vergnügen…«
    Bei der Aussicht auf ein Fernsehinterview schien Adelman anzuschwellen wie eine aufblasbare Puppe. »Nun, solange es nicht in einer offiziellen Eigenschaft ist…«
    O’Brian ignorierte ihn. »Könnte ich Sie wirklich nicht überreden?« sagte er zu Kelso. »Nichts, was Sie der Welt mitteilen möchten? Ich habe Ihr Buch über den Zusammenbruch des Kommunismus gelesen. Wann ist das noch mal erschienen? Vor drei Jahren?«
    »Vier«, sagte Kelso.
    »Ich glaube sogar, vor fünf«, sagte Adelman.
    Sogar eher vor sechs, dachte Kelso. Mein Gott, wo war nur die Zeit geblieben? »Tut mir leid, Mr. O’Brian«, sagte er.
    »Trotzdem vielen Dank, aber ich halte mich neuerdings vom Fernsehen fern.« Er sah Adelman an. »Allem Anschein nach ist es nämlich nur eine billige Sirene.«
    »Später, bitte«, zischte Olga. »Interviews später. Der Direktor spricht bereits. Bitte.« Kelso spürte ihren Schirm im Rücken, als sie ihn in den Saal steuerte. »Bitte. Bitte …«
    Nachdem auch die russischen Delegierten erschienen waren und dazu ein paar diplomatische Beobachter, die Presse und vielleicht fünfzig Personen aus dem öffentlichen Leben, war der Saal beeindruckend voll. Kelso ließ sich schwer auf seinen Platz in der zweiten Reihe sinken. Oben auf dem Podium hatte Professor Walentin Askenow vom Russischen Staatsarchiv mit einer langatmigen Erläuterung des Übertragens der Parteiunterlagen auf Mikrofilm begonnen. O’Brians Kameramann ging rückwärts den Mittelgang entlang und filmte das Publikum. Die schrille Verstärkung von Askenows sonorer Stimme schien eine schmerzende Kammer in Kelsos Innenohr zu durchbohren. Schon jetzt herrschte im Saal eine Art metallischer Neon-Lethargie. Ein anstrengender Tag dehnte sich vor ihm aus. Er schlug die Hände vors Gesicht.
    Fünfundzwanzig Millionen Seiten…. dozierte Askenow, fünfundzwanzigtausend Rollen Mikrofilm… sieben Millionen Dollar…
    Kelso ließ die Hände an den Wangen heruntergleiten, bis die Finger zusammentrafen und seinen Mund bedeckten. Betrüger! hätte er am liebsten geschrien. Lügner! Er schaute sich um. Weshalb saßen alle einfach nur seelenruhig da? Schließlich wußten sie ebensogut wie er, daß neun Zehntel des besten Materials nach wie vor unter Verschluß gehalten wurden und daß man an den Großteil vom Rest nur durch Bestechung drankam. Er hatte gehört, daß der augenblickliche Preis für eine erbeutete Nazi-Akte tausend Dollar und eine Flasche Scotch betrug.
    »Ich verschwinde hier«, flüsterte er Adelman zu.
    »Das geht nicht.«
    »Warum nicht?«
    »Es wäre unhöflich. Bleiben Sie um Himmels willen einfach hier sitzen, und tun Sie so, als wären Sie interessiert, wie alle anderen Leute auch.« Adelman sagte das alles aus dem Mundwinkel heraus, ohne den Blick vom Podium abzuwenden.
    Kelso hielt eine halbe Minute lang still. »Erzählen Sie den anderen, ich sei krank«, sagte er dann.
    »Das werde ich nicht tun.«
    »Lassen Sie mich vorbei, Frank. Ich muß mich übergeben.«
    »Himmel…«
    Adelman schwang die Beine zur Seite und drückte sich tiefer in den Sitz. In einem vergeblichen Versuch, weniger aufzufallen, duckte sich Kelso und stolperte über die Füße seiner Kollegen. Dabei stieß er gegen das in eleganten schwarzen Nylonstrümpfen steckende Schienbein von Ms. Velma Byrd.
    »Passen Sie doch auf, Kelso«, sagte Velma.
    Professor Askenow schaute von seinen Notizen auf und verstummte. Kelso war sich einer verstärkten, summenden Stille bewußt und einer Art kollektiver Bewegung im Publikum, als hätte sich ein großes Tier umgedreht, um den Reviereindringling zu beobachten. Das alles schien eine Ewigkeit lang anzudauern, jedenfalls so lange, wie er brauchte, um ans hintere Ende des Saals zu gelangen. Erst als er unter dem marmornen Blick von Lenin hindurchgegangen war und den leeren Korridor erreicht hatte, setzte die monotone Vortragsstimme wieder ein.
    Kelso saß hinter der verriegelten Tür einer Toilettenkabine im Erdgeschoß des früheren Instituts für Marxismus-Leninismus und öffnete seine Segeltuchtasche. Da waren die Utensilien seiner Profession: ein gelber Notizblock, Bleistifte, ein Radiergummi, ein kleines Schweizer Armeemesser, ein Begrüßungspäckchen von den Organisatoren des Symposiums, ein Wörterbuch, eine Straßenkarte von Moskau, sein Kassettenrecorder und ein Filofax, das ein Palimpsest von alten Telefonnummern, verlorengegangenen Kontakten, ehemaligen Freundinnen,

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