Aurora
kirchenähnliche Stille. An einem Ende stand eine Statue von Lenin, der in einem Buch las, am anderen eine astronomische Uhr. An die zweihundert Leute waren über ihre Schreibtische gebeugt. Durch das Fenster zu seiner Linken konnte er die Kuppeln und den Turm der Sankt-Nikolaus-Kirche sehen. Es war, als wäre er nie fort gewesen, dachte er, als wären die letzten achtzehn Jahre nur ein Traum gewesen.
Er setzte sich und legte seine Utensilien zurecht, und einen Augenblick lang war er wieder der 26jährige Student, der in einem Zimmer auf dem Corpus V der Moskauer Universität wohnte, für einen Schreibtisch, ein Bett, einen Stuhl und einen Schrank 260 Rubel im Monat bezahlte, seine Mahlzeiten in der Kantine im Keller einnahm, in der es von Schaben nur so wimmelte, seine Tage in der Lenin-Bibliothek verbrachte und seine Nächte mit einem Mädchen – mit Nadja, Katja, Margarita oder Irina. Irina. Sie war eine tolle Frau gewesen. Er strich mit der Hand über die zerkratzte Schreibtischplatte und fragte sich, was wohl aus Irina geworden sein mochte. Vielleicht hätte er mit ihr zusammenbleiben sollen – mit der ernsthaften, schönen Irina mit ihren Samisdat-Zeitschriften und ihren Zusammenkünften in Kellern, wo sie sich, vom ständigen Rattern eines Gestetner-Vervielfältigers begleitet, liebten und sich hinterher feierlich schworen, daß sie anders sein, daß sie die Welt verändern würden.
Irina. Er fragte sich, was sie vom neuen Rußland hielt. Das letzte, was er von ihr gehört hatte, war, daß sie im Süden von Wales als Zahnarzthelferin arbeitete.
Er ließ den Blick über den Lesesaal schweifen, dann schloß er die Augen und versuchte die Vergangenheit für ein paar weitere Minuten festzuhalten, ein Fett ansetzender, verkaterter Historiker mittleren Alters in einem schwarzen Kordanzug.
Seine Bücher trafen kurz nach elf an der Ausgabe ein, jedenfalls vier davon; sie hatten anstelle des zweiten den ersten Band von Wolkogonow heraufgebracht, also schickte er ihn zurück. Trotzdem hatte er genug. Er trug die Bücher zu seinem Schreibtisch und versank allmählich in seiner Arbeit, las, machte sich Notizen und verglich die verschiedenen Augenzeugenberichte über Stalins Tod. Er empfand, wie gewöhnlich, ein ästhetisches Vergnügen an der Detektivarbeit des Recherchierens. Berichte aus zweiter Hand und Spekulationen sortierte er aus. Ihn interessierten nur diejenigen Leute, die tatsächlich mit dem Generalsekretär im gleichen Zimmer gewesen waren und eine Beschreibung hinterlassen hatten, die er mit der von Rapawa vergleichen konnte.
Seinen Berechnungen zufolge waren es sieben Personen gewesen: die Politbüro-Mitglieder Chruschtschow und Molotow, Stalins Tochter Swetlana Allilujewa, zwei von Stalins Leibwächtern, Rybin und Losgatschew, und zwei Mediziner, der Arzt Mjasnikow und die Wiederbeleberin Tschesnokowa. Die restlichen Augenzeugen hatten entweder Selbstmord begangen (wie der Leibwächter Chrustalew, der sich zu Tode getrunken hatte, nachdem er die Autopsie mit angesehen hatte) oder waren kurze Zeit später gestorben oder sonstwie verschwunden.
Die Berichte unterschieden sich alle in Details, stimmten im wesentlichen aber überein. Stalin hatte am Sonntag, dem 1. März 1953, irgendwann zwischen 4 Uhr morgens und 10 Uhr abends, während er allein in seinem Zimmer war, eine starke Blutung in der linken Hirnhälfte erlitten. Akademiemitglied Winogradow, der Stalins Gehirn nach dessen Tod untersuchte, stellte eine schwerwiegende Verkalkung der Hirnarterien fest, was darauf hindeutete, daß Stalin vermutlich seit längerer Zeit, möglicherweise sogar schon seit Jahren, halb verrückt gewesen war. Niemand konnte sagen, wann der Schlaganfall stattgefunden hatte. Stalins Tür war den ganzen Tag geschlossen geblieben, und sein Personal hatte es nicht gewagt, sein Zimmer zu betreten. Der Leibwächter Losgatschew berichtete dem Schriftsteller Radsinski, er sei der erste gewesen, der sich getraut hätte:
Ich öffnete die Tür… und da lag der Chef auf dem Boden und hielt die rechte Hand in die Höhe, so etwa… Ich war wie versteinert. Meine Hände und meine Beine wollten mir nicht gehorchen. Er hatte vermutlich noch nicht das Bewußtsein verloren, aber er konnte nicht sprechen. Sein Gehör war noch gut, offensichtlich hatte er gehört, wie ich hereinkam, und wahrscheinlich hob er die Hand ein wenig, um mir zu sagen, daß ich hereinkommen und ihm helfen sollte. Ich eilte zu ihm und sagte: »Genosse Stalin, was
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