Aurora
früheren Leben war.
Da war etwas an der Geschichte des alten Mannes, das ihm bekannt vorkam, aber er konnte sich nicht erinnern, was es war. Er holte den Kassettenrecorder heraus, drückte REWIND, ließ das Band eine Weile zurückspulen, dann drückte er PLAY. Er hielt das Gerät ans Ohr und lauschte Rapawas blecherner Gespensterstimme.
»…das Zimmer des Genossen Stalin war das Zimmer eines einfachen Mannes. Das muß man Stalin lassen. Er ist immer einer von uns gewesen…« REWIND. PLAY.
»… aber etwas war überaus merkwürdig, mein Junge: Er hatte seine glänzenden neuen Schuhe ausgezogen und sie unter einen der dicken Arme geklemmt…« REWIND. PLAY.
»… wissen Sie, was Blischnjaja bedeutet, mein junge?… «
»… was Blischnjaja bedeutet, mein Junge?…«
»… was Blischnjaja…«
2. Kapitel
Die Moskauer Luft schmeckte nach Asien – nach Staub und Ruß und fremdartigen Gewürzen, billigem Benzin, schwarzem Tabak, Schweiß. Kelso trat aus dem Institut und schlug den Kragen seines Regenmantels hoch. Er überquerte den unebenen Vorplatz, wobei er geflissentlich den zugefrorenen Pfützen auswich. Er widerstand der Versuchung, den verdrießlichen Demonstranten zuzuwinken – das wäre eine ›westliche Provokation‹ gewesen.
Die Straße fiel nach Süden hin in Richtung Stadtzentrum ab. Jedes zweite Gebäude war eingerüstet. Neben ihm rumpelte Bauschutt in einer Metallrutsche herunter und prasselte in einen Container. Er kam an einem zwielichtigen Spielkasino vorbei, das als solches nur durch ein Reklameschild mit zwei rollenden Würfeln zu erkennen war, an einer Pelzboutique, an einem Geschäft, in dem nichts anderes verkauft wurde als italienische Schuhe. Solche handgearbeiteten Schuhe hätten einen der Demonstranten bestimmt den ganzen Monatslohn gekostet. Irgendwie konnte er ihnen plötzlich nachfühlen. Ganz unvermittelt erinnerte er sich an einen Ausspruch von Evelyn Waugh: »Der Aufbau eines Empire ist häufig mit Not und Elend verbunden; sein Abriß immer.«
Am unteren Ende der Anhöhe bog er nach rechts ab, in den Wind hinein. Es hatte aufgehört zu schneien, aber der kalte Wind war schneidend und erbarmungslos. Er konnte sehen, wie sich auf der anderen Straßenseite, unterhalb der roten Steinfassade der Kremlmauer, winzige Figuren unter dem Wind duckten, während die goldenen Kuppeln der Kirchen wie die Kugeln einer riesigen meteorologischen Maschine über die Mauerkrone ragten.
Sein Ziel lag direkt vor ihm. Wie das Institut für Marxismus-Leninismus war auch die Lenin-Bibliothek umbenannt worden; sie hieß jetzt Zentralbibliothek der Russischen Föderation, aber alle Leute nannten sie nach wie vor Lenin-Bibliothek. Er trat durch die vertraute dreigeteilte Tür, gab Tasche und Mantel bei der Babuschka an der Garderobe ab und zeigte einem bewaffneten Wachmann in einer Glaskabine seinen alten Leserausweis.
Er trug sich in das Register ein und fügte die Uhrzeit hinzu. Es war elf Minuten nach zehn.
Man war noch nicht dazu gekommen, die Lenin-Bibliothek zu computerisieren, was nichts anderes hieß, als daß vierzig Millionen Titel noch immer auf Karteikarten verzeichnet waren. Am oberen Ende einer breiten Steintreppe, unter der gewölbten Decke, war ein Meer von Holzschränken. Kelso bewegte sich zwischen ihnen, wie er es vor Jahren getan hatte, zog auf der Suche nach den vertrauten Titeln eine Schublade nach der anderen auf. Radsinski würde er brauchen und den zweiten Band von Wolkogonow und Chruschtschow und die Allilujewa. Die Karten für die letzten beiden Werke waren mit dem kyrillischen Schriftzeichen ›f‹ versehen, was bedeutete, daß sie sich bis 1991 im Geheimindex befunden hatten. Wie viele Titel durfte er anfordern? Fünf, wenn er sich recht erinnerte. Schließlich entschied er sich für Tschujews Interviews mit dem greisen Molotow. Dann brachte er seine Bestellzettel zum Ausgabeschalter und sah zu, wie sie in einen Metallbehälter gesteckt und per Rohrpost in die tieferen Gefilde der Lenin-Bibliothek befördert wurden.
»Wie lange wird es dauern?«
Die Angestellte zuckte die Achseln. Woher solle sie das wissen?
»Eine Stunde?«
Sie zuckte abermals die Achseln.
Es hat sich nichts geändert, dachte er Er machte sich auf den Weg in den Lesesaal Nummer 3 und wanderte auf dem abgetretenen grünen Teppich leise zu seinem alten Platz. Auch hier hatte sich nichts verändert weder das satte Braun des holzgetäfelten Saals und seiner Emporen noch der trockene Geruch und die
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