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Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
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ist passiert?« Er… nun ja… er hatte sich in die Hose gemacht, während er dort lag, und jetzt versuchte er, etwas mit der linken Hand geradezuziehen. Ich sagte: »Soll ich einen Arzt rufen?« Er gab ein unverständliches Geräusch von sich, das sich wie »Ds… ds…« anhörte, das war alles, was er noch herausbrachte.
    Unmittelbar danach hatten die Leibwächter Malenkow herbeigerufen. Malenkow hatte Berija angerufen. Und Berijas Befehl, gleichbedeutend mit Mord durch unterlassene Hilfeleistung, hatte gelautet, daß Stalin betrunken sei und in Ruhe gelassen werden solle, damit er seinen Rausch ausschlafen könne.
    Kelso notierte sich die Passage. Nichts darin widersprach Rapawa. Das bedeutete natürlich nicht, daß Rapawa die Wahrheit gesagt hatte – er hätte Losgatschews Aussage selbst lesen und seine Geschichte so zurechtbiegen können, daß sie mit ihr übereinstimmte. Aber sie deutete auch nicht darauf hin, daß er gelogen hatte, und die Einzelheiten stimmten auf jeden Fall überein: der zeitliche Rahmen, der Befehl, keine ärztliche Hilfe zu holen, die Tatsache, daß Stalin sich in die Hose gemacht hatte, die Art, auf die er das Bewußtsein zurückerlangte, aber nicht sprechen konnte. Das war während der drei Tage, die Stalin zum Sterben brauchte, mindestens zweimal passiert. Einmal, als Chruschtschow zufolge die Ärzte, die das Politbüro endlich hinzugezogen hatte, ihn mit Suppe und schwachem Tee fütterten, hatte er die Hand gehoben und auf eines der Kinderfotos an der Wand gezeigt. Die zweite Rückkehr ins Bewußtsein trat kurz vor dem Ende ein und wurde von allen bestätigt, insbesondere von seiner Tochter Swetlana:
    Kurz bevor der Tod endgültig einzutreten schien, öffnete er plötzlich die Augen und bedachte alle Anwesenden mit einem Blick. Es war ein fürchterlicher Blick, wahnsinnig – oder vielleicht auch wütend – und voller Angst vor dem Tod und den unvertrauten Gesichtern der Ärzte, die sich über ihn beugten. Der Blick fegte in Sekundenschnelle über alle hinweg. Und dann passierte etwas Unbegreifbares und Entsetzliches, das ich bis heute weder vergessen noch mir erklären kann. Er hob plötzlich die linke Hand, als wollte er auf etwas über sich zeigen und einen Fluch auf uns alle herabbeschwören. Die Geste war unerklärlich und voller Drohung, und niemand vermochte zu sagen, gegen wen oder was sie gerichtet sein könnte. Im nächsten Augenblick, nach einer letzten Anstrengung, riß sich der Geist vom Fleisch los.
    Das war 1967 geschrieben worden. Nachdem Stalins Herz aufgehört hatte zu schlagen, wurde die Wiederbeleberin Tschesnokowa – eine kräftige junge Frau – angewiesen, seinen Brustkorb zu bearbeiten und ihn von Mund zu Mund zu beatmen, bis Chruschtschow hörte, wie die Rippen des alten Mannes brachen, und er der Tschesnokowa befahl einzuhalten, »…niemand vermochte zu sagen, gegen wen oder was sie gerichtet sein könnte…« Kelso unterstrich den Satz leicht mit dem Bleistift. Wenn Rapawa die Wahrheit gesagt hatte, dann war ziemlich offensichtlich, wen Stalin verflucht hatte: den Mann, der ihm den Schlüssel zu seinem Privatsafe gestohlen hatte – Lawrenti Berija. Weshalb er auf das Foto eines Kindes gezeigt haben sollte, war weniger klar.
    Kelso tippte mit dem Bleistift gegen seine Zähne. Es waren alles reine Indizien. Er konnte sich Adelmans Reaktion vorstellen, wenn er versuchen würde, sie ihm als handfestes Beweismaterial zu präsentieren. Der Gedanke an Adelman veranlaßte ihn, auf die Uhr zu sehen. Wenn er jetzt aufbrach, konnte er ohne weiteres zum Lunch wieder beim Symposium sein, und die Chancen standen gut, daß er nicht einmal vermißt worden war. Er nahm die Bücher und brachte sie zurück zum Ausgabeschalter, wo gerade der zweite Band des Wolkogonow eingetroffen war.
    »Also«, sagte die Bibliothekarin und kniff die dünnen Lippen gereizt zusammen, »wollen Sie das Buch nun, oder nicht?«
    Kelso zögerte, hätte fast nein gesagt, doch dann dachte er, daß er das, was er angefangen hatte, ebensogut zu Ende bringen konnte. Er gab die anderen Bücher ab und kehrte mit dem Wolkogonow in den Lesesaal zurück.
    Das Buch lag vor ihm auf dem Schreibtisch wie ein schmutzigbrauner Ziegelstein: Triyumf i Tragedija: politicheskii portret J. W. Stalina, Novosti-Verlag, Moskau 1989. Er hatte es gleich nach Erscheinen gelesen und seither nicht das Bedürfnis verspürt, nochmals einen Blick hineinzuwerfen. Jetzt betrachtete er das Buch ohne eine Spur von Begeisterung,

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