Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Aurora

Aurora

Titel: Aurora Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Harris
Vom Netzwerk:
ich Ihnen etwas erzählen. Und danach werden Sie mir etwas erzählen.« Er schwenkte die Hand zwischen ihnen hin und her. »Wir schließen einen Handel ab. Einverstanden?«
    Hinterher versuchte Kelso, eine Liste zu erstellen, aber es war einfach zu viel gewesen, als daß er sich an alles hätte erinnern können: Gerassimows riesiges Ölgemälde von Stalin auf der Kremlmauer und die mit Neon beleuchtete Vitrine mit ihren Stalin-Miniaturen – ihren Stalin-Schüsseln und Stalin-Bronzen, ihren Stalin-Briefmarken und Stalin-Medaillen – und das Regal mit Büchern von Stalin und Büchern über Stalin, und die Fotos von Stalin – signiert und unsigniert – und das Blatt mit Stalins Handschrift blauer Stift, liniertes Papier, im Quartformat und gerahmt –, das über der Stalin-Büste von Wutschetitsch hing (»… verschonen Sie keine Menschen, ganz gleich, welche Stellung diese einnehmen, verschonen Sie lediglich die Sache, die Interessen der Sache…«)
    Er schlenderte in der Sammlung herum, während Mamantow ihn genau beobachtete.
    »Das Blatt mit seiner Handschrift«, sagte Kelso, »das hier – das ist doch eine Notiz für eine Rede, oder?«
    »Stimmt«, sagte Mamantow, »Oktober 1920, Ansprache vor dem Arbeiter und Bauernausschuß.«
    »Und der Gerassimow da? Gibt es da nicht ein ähnliches Bild aus dem Jahr 1938, mit Stalin und Woroschilovv auf der Kremlmauer?«
    Mamantow nickte, offenbar erfreut darüber, diese Reminiszenzen mit einem gleichermaßen kenntnisreichen Mann zu teilen. »Ja, der Generalsekretär hat Gerassimow angewiesen, eine zweite Version zu malen und dabei Woroschilow auszulassen – auf diese Weise hat er Woroschilow daraufhingewiesen, daß das Leben – wie soll man das ausdrücken? – jederzeit so umgestaltet werden kann, daß es die Kunst imitiert.« Ein Sammler in Maryland und ein anderer in Düsseldorf hätten Mamantow 100.000 Dollar für das Bild geboten, aber er würde niemals zulassen, daß es russischen Boden verließ. Niemals. Eines Tages, so hoffe er, würde er es vielleicht in Moskau ausstellen können, zusammen mit dem Rest seiner Sammlung – »wenn die politische Lage günstiger ist«.
    »Und Sie glauben, daß die Lage eines Tages günstiger sein wird?«
    »O ja. Unter objektiver Sicht wird die Geschichte erweisen, daß Stalin richtig gehandelt hat. So liegen die Dinge mit Stalin. Aus der subjektiven Perspektive mag er grausam, sogar bösartig erscheinen. Aber der Ruhm des Mannes ist in der objektiven Perspektive zu finden. Dann ist er eine alles überragende Gestalt. Ich bin felsenfest davon überzeugt, daß, wenn die richtige Perspektive wiederhergestellt ist, für Stalin abermals Denkmäler errichtet werden.«
    »Dasselbe hat Göring beim Nürnberger Prozeß über Hitler gesagt. Aber ich sehe keine Denkmäler«
    »Hitler hat verloren.«
    »Aber hat Stalin nicht auch verloren? Letzten Endes? Aus der ›objektiven Perspektive‹ heraus betrachtet?«
    »Stalin erbte ein Land mit Holzpflügen und hinterließ uns ein Reich mit Atomwaffen. Wie können Sie da sagen, er hätte verloren? Die Männer, die nach ihm kamen – die haben verloren. Nicht Stalin. Stalin hatte natürlich vorhergesehen, was passieren würde. Chruschtschow, Molotow, Berija, Malenkow – die bildeten sich ein, sie wären zäh, aber er durchschaute sie.
    ›Wenn ich nicht mehr bin, werden die Kapitalisten euch ersäufen wie blinde Kätzchen.‹ Seine Analyse war korrekt, wie immer.«
    »Sie glauben also, wenn Stalin noch am Leben wäre…«
    »…dann würden wir immer noch eine Supermacht sein? Voll und ganz. Aber Männer von Stalins Genie werden einem Land vielleicht einmal in einem Jahrhundert geschenkt. Und sogar Stalin war nicht imstande, eine Strategie gegen den Tod zu ersinnen. Kennen Sie die Meinungsumfrage zu Stalins fünfundvierzigstem Todestag?«
    »Ja.«
    »Und was halten Sie von dem, was dabei herauskam?«
    »Ich fand es« – Kelso suchte nach einem neutralen Wort – »bemerkenswert.«
    Bemerkenswert? Mein Gott, dachte Kelso, die Ergebnisse waren beängstigend gewesen. Ein Drittel der Russen gab an, sie hielten Stalin für einen großen Kriegsführer. Jeder sechste hielt ihn für den größten Herrscher, den das Land je gehabt hatte. Stalin war siebenmal populärer als Boris Jelzin, während auf den armen alten Gorbatschow so wenige Nennungen fielen, daß er nicht einmal im Bericht auftauchte. Die Meinungsumfrage war im März veröffentlicht worden. Kelso war so bestürzt gewesen, daß er der New

Weitere Kostenlose Bücher